Okkult

  • Heyne
  • Erschienen: Januar 2012
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Okkult
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Michael Drewniok
85°1001

Phantastik-Couch Rezension vonOkt 2011

Ein Riss in der Welt will sich nicht schließen

Schriftsteller Lee Harwell gehört zu den erfolgreichen Mitgliedern seiner Zunft. Aktuell kreisen seine Gedanken um die eigene Vergangenheit, die womöglich den Stoff für ein neues Buch hergibt: Mitte der 1960er Jahre gehörte Harwell durch seine Freundin locker zu einer Gruppe, die in Madison, einer kleinen Stadt im US-Staat Wisconsin, in einen nie geklärten Kriminalfall verwickelt waren.

Während Lee "Eel" Truax - besagte Freundin -, Donald "Dilly" Olson, Jason "Boats" Boatman, Howard "Hootie" Bly, Meredith Bright, Keith Hayward und Brett Milstrap den Verführungskünsten des selbsternannten Gurus Spencer Mallon erlagen, glaubte Harwell diesem nie ein Wort; er selbst nahm deshalb nicht an jener ´bewusstseinserweiternden´ Geisterbeschwörung teil, die Mallon in einer Oktobernacht des Jahres 1966 auf einer abgelegene Wiese inszenierte. Am nächsten Morgen war Hayward in Stücke gerissen, Mallon und seine Jünger hatten sich in alle Winde zerstreut.

Was sie in dieser Nacht erlebten, beschäftigt die Überlebenden seit Jahrzehnten, denn es prägte oder zerstörte ihre Leben. Hootie Bly ist seitdem geisteskrank, Meredith Bright ihrer Gefühle beraubt Lee Truax erblindet. Sie hat später Harwell geheiratet, konnte ihm aber nie erzählen, was damals geschah. Jetzt ist sie es, die Harwell mit ihren Leidensgefährten zusammenführt. Heimlich hat Lee den Kontakt stets aufrechterhalten. Ihr Mann soll die Ereignisse von 1966 rekonstruieren.

Harwell macht sich an die Arbeit. Mühsam aber immer deutlicher enthüllt sich ihm eine unglaubliche Wahrheit: Durch einen Zufall gelang es Spencer Mason, jene schützende Membran zu durchdringen, die das umgibt, was "Realität" genannt wird. Jenseits dieser Grenze existieren Mächte, die dem Menschen bestenfalls gleichgültig gegenüberstehen. Oft sind sie jedoch feindlich gesonnen und lauern auf Dummköpfe wie Mason, die ihnen ohne echte Ahnung von ihrem Tun eine Tür öffnen. Dies geschah 1966, und was dabei auf diese Welt gerufen wurde, nistet noch heute in den denen, die ihm damals ausgesetzt waren ...

Kein Grusel von der Stange

Peter Straub ist ein Autor, der es seinem Publikum nicht leicht macht. Weil er zwei Bücher mit Stephen King geschrieben hat, neigen die Anhänger eines eher handfesten Horrors dazu, auch aus seiner Feder vor allem spannende Geschichten über Geister und Monster zu erwarten. Die liefert es durchaus, aber manchmal erinnert sich Straub daran, dass er einst als ´richtiger´ Literat ins Schriftstellerleben startete. Dann geht er in sich, reflektiert über die Phantastik und entwickelt handwerklichen Ehrgeiz.

Das Ergebnis sind Romane wie dieser: sehr interessant aber anstrengend zu lesen und unterm Strich nicht annähernd so gehaltvoll, wie ihr Verfasser dies geplant haben mag. Man könnte "Okkult" vorsichtig und zur Ehrenrettung seines Verfassers als Fingerübung bezeichnen, wiese dieses Buch in seiner deutschen Version nicht den stolzen Umfang von 560 Seiten auf.

Im nüchternen Rückblick bleibt erstaunlich wenig Ereignissubstanz im Gedächtnis des Lesers haften. Dies liegt u. a. daran, dass Straub sich des "Rashomon"-Prinzips bedient und seine Story aus mehreren Blickwinkeln betrachtet bzw. mehrfach - fünfmal, um genau zu sein - erzählt. Darüber hinaus zersplittert er das Geschehen zusätzlich in Fragmente; er springt in der Handlungszeit vor und zurück, arbeitet mit eingeschobenen Mini-Storys, die der Leser entschlüsseln soll, und bleibt auch sonst gern kryptisch.

Die Rätsel einer Nacht

Stringenter Horror sieht jedenfalls anders aus. Gelungene Phantastik allerdings auch. Zwar wird deutlich, worauf Straub hinauswill, doch er schafft es nicht, das Gerüst zu verbergen, das er als stützendes Gerüst um seine Idee errichtet hat. Immer wieder schimmert es durch und zeigt uns Straub, der nicht nur erzählt, sondern auch ein ehrgeiziges Handwerk verrichtet, was wir aber nicht wissen und vor allem nicht bemerken wollen.

"Okkult" ist darüber hinaus allzu angestrengt mehrschichtig und hintergründig geraten. Straub ist zu verliebt in Einfälle, die zur Handlung kaum oder gar nicht beitragen, seine Geschichte mit wenig interessanten bzw. sympathischen Figuren besetzt und vor allem viel zu lang geraten.

Trotzdem macht es einen Heidenspaß, diesen Roman zu lesen: Wo steht geschrieben, dass Lektüre nicht Ansprüche stellen darf? Selbst das allzu offensichtliche Spiel mit literarischen Formen und erzählerischen Chiffren kann einen eigenen Reiz entfalten. "Okkult" ist trotz des Umfangs ein Buch, das man aufmerksam lesen muss. Straub spickt diese Geschichte mit Hinweisen und Schlüsseln, die der Leser parat haben sollte, wenn er an jene Stellen gelangt, die nur aufgrund ihrer Kenntnis einen Sinn ergeben. In diesem Spiel bleibt Straub, auch wenn er nicht auf der Höhe seiner Möglichkeiten arbeitet, ein Meister.

Die Realität der Phantastik

Zudem versteht es Straub, die Ereignisse der mysteriösen Oktobernacht mit einer Bildgewalt zu vermitteln, die sich nicht aus der minuziösen Schilderung von Details, sondern gerade aufgrund der fragmentarischen Überlieferung speist: In dieser Nacht geschah tatsächlich Unfassbares in einem Sinn, der sich nur annähernd in Worte fassen lässt. Straub versucht, der ´jenseitigen´ Welt ihre Fremdheit zu bewahren. Das klingt seltsam, wird aber verständlich, wenn man sich vergegenwärtigt, wie simpel das Grauen gemeinhin daherkommt. Dämonen, Vampire, Ungeheuer: Sie sehen irgendwie gruselig aus, wirken aber nicht wirklich fremd und benehmen sich auch nicht so; ihre Ziele sind simpel. Wenn sie foltern & killen, gewinnen sie beim besten Willen nicht an Charisma.

Oft aber selten mit Erfolg haben Phantasten sich an einem Grauen versucht, das höchstens ansatzweise vom menschlichen Geist erfasst werden kann. William Hope Hodgson (1877-1918) gelang dies mit "The House on the Borderland" (1908; dt. "Das Haus an der Grenze"), Algernon Blackwood (1869-1951) war in dieser Hinsicht vor allem in seinen längeren Erzählungen erfolgreich. Später war es Howard Phillips Lovecraft (1890-1937), der einen kosmischen Schrecken beschwor, der in der Konfrontation dem Erzähler immer wieder buchstäblich die Sprache verschlug.

Dass Peter Straub auf Lovecrafts Spuren wandelt, ist mehr als eine Vermutung. Schon einmal hat er sich auf ihn berufen. "Mr. X" (dt. "Mister X"/"Schattenbrüder") markierte 1999 den ehrgeizigen Versuch, Lovecrafts "Cthulhu"-Mythos in einer Gegenwart zu etablieren, die mehr als nur Kulisse für eine tentakelreiche Spukstory war.

Zeitgeschichte ohne echte Wurzeln

Mit "Okkult" versucht Straub viel, wobei ihm nicht alles gelingt. So erzählt er im Interview von der Faszination, mit der er in seinen Studentenjahren die schier allgegenwärtigen Gurus und Sektenführer der 1960er Jahre beobachtete. Mit selbst gestrickten Weisheiten und angelesenen, nach eigenem Gusto interpretierten (oder verbogenen) ´Wahrheiten´ gelang es ihnen, Männer und Frauen in ihren Bann zu ziehen, die es eigentlich besser wissen und die Manipulationen und blanken Lügen hätten durchschauen müssen. Spencer Mallon, von dem immer wieder die Rede ist, taucht als Figur in "Okkult" freilich niemals auf. Im Spiegel seiner Anhänger und Feinde bleibt er schemenhaft. Deshalb wird die Faszination, die angeblich von Mallon ausging, nicht nachvollziehbar.

Faktisch besitzt die gesamte Handlungsebene des Jahres 1966 nur eine von Straub behauptete Bedeutsamkeit. Die "Swinging Sixties" bleiben blass, die angebliche Umbruchphase ist für die Handlung belanglos. Im Zentrum steht die Geisterbeschwörung. Sie könnte zu jedem anderen Zeitpunkt geschehen. Dass sie gelingt und gleichzeitig fehlschlägt, weil Mallon ein ´Zauberer´ ist, dem dies eine Mal ein Trick ohne doppelten Boden gelingt, ist eine Ironie, die nicht zünden will.

Kühles Drama mit gesetzten Beteiligten

Mit Straubs Figuren wird der Leser nie warm. Dies liegt nicht nur daran, dass sie in der Tat nicht sympathisch sind und dies womöglich gar nicht sein sollen. Zudem baut Straub - nicht unbedingt notwendig - eine zweite, die Handlung dem Leser zusätzlich entfremdende Ebene ein: Lee Harwell ist Sammler und Chronist der Ereignisse. Er plant ein neues Buch. Das nicht von Straub, sondern angeblich von Harwell geschriebene "Okkult" stellt so etwas wie sein Notizbuch dar. Erst später besinnt er sich auf seine Rolle als Protagonist in einer Geschichte, in der er sich lange nur als passiver Zeitzeuge betrachtete.

In dieser zweiten Hälfte gewinnt "Okkult" Profil und Schwung, aus literarischem Ehrgeiz geht eine echte Geschichte hervor. Damit gibt Straub freilich seinen ursprünglichen Anspruch notgedrungen auf. Die Auflösung kann schließlich wieder einmal mit dem Rätsel nicht mithalten. Straubs Konzept einer mehrdimensionalen Realität wird erneut in eindrucksvolle Bilder gekleidet, was an der Banalität der Botschaft wenig ändert. An diesem Problem ist allerdings nicht nur Straub gescheitert.

Im letzten Drittel dominiert der Inhalt die Form. Alle losen Fäden werden zum finalen Knoten geschürzt, sogar Tempo kommt in die Handlung. Am Ende ist da zwar die Erkenntnis, dass Straub mit einer Kanone auf Spatzen geschossen hat. Doch er hat das Risiko unternommen, die Phantastik gegen ihren Strich zu bürsten. Das ist ihm mit "Okkult" nur bedingt aber doch allemal unterhaltsamer gelungen als die x-te Invasion randalierender Zombies oder liebeskranker Vampire.

Anmerkung: Facetten der Wahrheit

"Rashomon" (dt. "Rashomon - Das Lustwäldchen") ist ein vom japanischen Regisseur Akira Kurosawa inszenierter Filmklassiker aus dem Jahre 1950. Die Vergewaltigung einer Frau und der Mord an ihrem Mann werden im Verlauf einer Gerichtsverhandlung rekonstruiert. Dabei erzählen die in den Fall verwickelten Personen und ein Zeuge jeweils ihre Versionen der Ereignisse, die als Film im Film wiedergegeben werden und erhebliche Widersprüche aufweisen. Was hat sich tatsächlich ereignet?

Über die spannende Handlung hinaus beschäftigt Kurosawa - der auch am Drehbuch mitschrieb - die Frage nach dem Wesen der Wahrheit, die es womöglich gar nicht gibt, weil ein Geschehen stets durch die individuelle Sicht der Beteiligten gefiltert wird; diese haben zudem oft ein Interesse daran, die objektive Wahrheit zu ihren Gunst zu verdrehen. Das Problem oder vielleicht besser: die Tatsache einer selektiven Wahrnehmung bestimmt auch Lee Harwells Suche.

(Dr. Michael Drewniok, April 2012)

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Peter Straub, Heyne

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