Film:
Doctor Sleeps Erwachen

Film-Kritik von Yannic Niehr / Titel-Motiv: © 2019 WARNER BROS. ENTERTAINMENT INC.

REDRUM EROM

Man muss den seltsamsten Inspirationsquellen und Zufällen für das Oeuvre Stephen Kings dankbar sein. So kam sein erster Erfolg Carrie bekanntlich überhaupt nur zustande, weil seine Frau Tabitha die von ihm weggeworfenen Seiten aus dem Müll fischte und ihn drängte, weiterzumachen. Und eine Urlaubsübernachtung in Zimmer 217 des postkarten-idyllischen (zu diesem Zeitpunkt aufgrund des Saisonschlusses aber bereits unheimlich leeren) Stanley Hotels in Colorado gab den Auslöser für ein anderes Meisterwerk der Horrorliteratur: The Shining, erschienen 1977, konnte dem für das Genre nicht untypischen Topos des Spukhotels noch einmal ganz neue Facetten abgewinnen. Nachhaltigen Einfluss auf die Popkultur kann aber vor allem Stanley Kubricks ikonische Verfilmung von 1980 für sich beanspruchen, die zurecht als einer der besten Horrorfilme aller Zeiten gilt. Unvergessen die geisterhaften Zwillinge, die den kleinen Danny in ihr Spiel locken wollen, unvergessen der Fahrstuhl voll Blut, unvergessen die dämonische Fratze Jack Nicholsons. Die verschachtelte, atmosphärische, wunderschöne und doch verstörende Bildsprache des Films hat sich für immer in Netzhaut und Hirn eingebrannt.  

Das Buch jedoch handelt auch von Alkoholmissbrauch und dem schleichenden Verfall, den dieser über eine Familie bringen kann. Da King lange Zeit selbst mit Drogen und Alkohol zu kämpfen hatte, ist The Shining für ihn wohl ein sehr persönliches Buch. Es überrascht also nicht, dass ihn die Figuren dieses Romans nie ganz losgelassen haben und er sich entschloss, 2013 eine Fortsetzung auf den Markt zu bringen. Doctor Sleep setzt in der Gegenwart an und stellt einen erwachsenen Danny Torrance in den Mittelpunkt. Nun ist die Verfilmung des Sequels (unter dem unglücklichen deutschen Titel Stephen Kings „Doctor Sleeps Erwachen“ – wessen glorreiche Idee war bitte dieser doppelte Genitiv?) auch hierzulande auf der großen Leinwand zu sehen. Wird eine dermaßen einschlägige und beliebte Story nach einer so langen Zeit fortgeführt, ist die Erwartungshaltung entsprechend groß und fällt für Leser der Romane natürlich ganz anders aus als für Fans der Kubrick-Adaption oder auch für völlige Neulinge. Worauf also muss man sich bei dem Film einstellen? 

„Komm spiel mit uns, Danny… diesmal WIRKLICH für immer!“

Wir erinnern uns… Colorado in den ausgehenden 70ern: Jack Torrance ist überglücklich, als er einen Hausmeisterjob im über die Wintersaison leerstehenden Luxushotel Overlook bekommt. Nachdem er aufgrund seines Alkoholismus gegenüber seinem kleinen Sohn Danny (Spitzname: „Doc“) handgreiflich geworden ist, sieht er in diesem Trip die letzte Chance, seine Ehe mit Wendy zu kitten und gleichzeitig in Ruhe mit seinem Roman voranzukommen. Doch im Overlook hat sich alles Furchtbare, das je dort geschah, angesammelt: ein gefährlicher Ort für einen Jungen wie Danny, der das „Shining“ besitzt – so nennt der nette Hotelkoch Dick Hallorann die telepathische Begabung, die sie beide teilen, und die für das Hotel wie eine Art Batterie wirkt. Die dunklen Energien des Gebäudes machen sich Jacks Schwächen zunutze und treiben ihn in den Wahnsinn. Seinem Amoklauf können Danny und Wendy nur knapp entkommen.

Doch ist das Grauen nicht vorüber: Die Gespenster des Overlook suchen den nachhaltig traumatisierten Danny immer noch heim. Von Dick Hallorann, dessen Geist ihm als Ratgeber und eine Art Gewissen weiterhin beisteht, lernt er einen Trick, um sie in mentale Kisten zu sperren. Sein „Shining“, das er als Ursache für das ihm widerfahrene Unheil betrachtet und gegen das er deshalb eine Aversion entwickelt hat, setzt er danach allerdings kaum noch ein.  

Mehrere Jahrzehnte sind seitdem vergangen, und leider ist Danny zwischenzeitlich in die Fußstapfen seines Vaters getreten: er hängt selbst an der Flasche und ist ein rumhurender und pöbelnder Nichtsnutz geworden. Seine ziellose Flucht vor sich selbst führt ihn nach New Hampshire, wo er in dem verschlafenen Städtchen Frazier neuen Sinn im Leben findet, als ihm bei einem Treffen der Anonymen Alkoholiker von seinem Nachbarn (und bald guten Freund) Billy eine Stelle im lokalen Hospiz vermittelt wird. Dort nimmt er den Bewohnern mithilfe seiner übersinnlichen Begabung die Ängste vor dem Jenseits und wacht über sie, während sie entschlafen, sodass man ihn bald liebevoll „Doctor Sleep“ nennt.

Zur gleichen Zeit treibt eine sektenähnliche Gruppierung, genannt „Der Wahre Knoten“, ihr Unwesen. Dank ihnen kann Kings bereits beachtlich große Riege telekinetisch und telepathisch talentierter Kinder und Jugendlicher noch einmal deutlich wachsen: die Gruppe, angeführt von „Crow Daddy“ und „Rose the Hat“, nimmt übersinnliche Kids in ihre Reihen auf – denn es braucht übersinnliche Kids, um übersinnliche Kids zu fangen! Der „Wahre Knoten“ ist auf der Jagd nach „Shining“-Kindern (diese Kraft nennen sie „Steam“), denen sie ihre Energie aussaugen, um sich selbst über Jahrhunderte am Leben zu halten. Problem für den „Knoten“: Kinder mit dem „Shining“ werden immer seltener. Darum sind sie auf der Suche nach der Goldader, einem Kind mit so viel Macht, dass es sie für lange Zeit satt machen kann. Die Beschreibung passt perfekt auf die kleine Abra Stone. Das Ausnahmetalent hat sich in die telepathische Frequenz des „Knotens“ eingehackt und ist ihnen so auf die Schliche gekommen. Damit bringt Abra sich natürlich selbst in große Gefahr, denn schnell hat der „Knoten“ auch ihre Witterung aufgenommen. Zum Glück sind Abras Kräfte Danny ebenfalls nicht entgangen – in seinem Wunsch nach Wiedergutmachung eilt er ihr sofort zu Hilfe. Aber gibt es einen Ort, der einem Telekinese-Vampir wie Rose the Hat überhaupt etwas anhaben kann? Ein Katz-und-Maus-Spiel beginnt…

Hungrige Orte

Regisseur Mike Flanagan ist nicht zum ersten Mal im Horrorgenre unterwegs: er führte Regie bei dem originellen Oculus von 2012, schuf die Netflix-Serie Spuk in Hill House (ein echter Geheimtipp, den sich kein Horrorfan entgehen lassen sollte: die spannende Prämisse besteht darin, dass Figurennamen, Motive und Dialoge aus Shirley Jacksons gleichnamigem, wegweisenden Schauerroman entlehnt und in eine zeitgenössische, völlig neue Familiengeschichte „transplantiert“ werden), und durfte sich mit dem ungewöhnlichen Thriller Das Spiel auch schon an einer King-Adaption versuchen. Letztere scheinen im Moment sowieso groß in Mode: da sind die aktuellen Remakes von Es und Friedhof der Kuscheltiere nur zwei Beispiele von vielen. Und gerade im Horrorgenre, in welchem leider viel zu oft platte Massenware produziert wird, ist es immer wieder erfreulich, wenn ein Regisseur am Werk ist, der einem Film seinen eigenen kreativen Stempel aufdrücken kann. Flanagan ist ein Meister der ruhigen Töne, die er nur mit sehr gezielt eingesetzten Jump Scares unterwandert. Seinen in schummriges Blau und Grün getauchten Geistergestalten wohnt trotz ihres hohen Gruselfaktors oftmals eine gewisse Melancholie inne. Außerdem rekurrieren seine symmetrischen, fast schon klinischen Bildaufbauten deutlich auf Kubrick. Er war eine naheliegende Wahl. 

Schade also, dass Flanagan viele seiner Markenzeichen (z.B. das Spiel mit Zeit- und Realitätsebenen) kaum einsetzen kann. Vielleicht wurde seine Experimentierfreude ob der Ehrfurcht eines solchen Großprojekts ein wenig in ihre Schranken verwiesen. Der Film hat von Anfang an einen anspruchsvollen Spagat zu vollbringen, denn er muss sowohl Stephen King als auch Stanley Kubrick gerecht werden. Dieser geht erst am Ende wirklich auf – gerade zu Beginn sind die Schnittstellen, wo sich die thematischen Grundlagen von Kings Geschichte und die Ikonographie von Kubricks Verfilmung treffen, sehr holprig geraten. Im Vergleich zu Kubricks Werk ist Doctor Sleep ein weitaus konventionellerer Film nach Hollywood-Schema geworden. Man muss ihm allerdings zugutehalten, dass man nicht einfach nur The Shining 2.0 geboten bekommt, sondern eine eigenständige und ästhetisch ansprechend (wenn auch gelegentlich zu weichgezeichnet) erzählte Story, die den Kosmos des Originals sinnvoll erweitert. 

Abra… Cadabra

Trotz der langen Spielzeit kommen keine Längen auf, aber der Fluss ist nicht ganz rund – erst ab etwa der Hälfte nimmt der Film so an Fahrt auf, dass man in die Story hineingesogen wird. Leider wirken die zwei Handlungsstränge um Dannys Entwicklung und um den „Knoten“ über weite Strecken wie zwei völlig unterschiedliche Filme. Man muss Doctor Sleep also etwas Zeit geben, bevor er wirklich Spaß machen kann. Wie so oft steht und fällt das natürlich mit der Besetzung:

Ewan McGregor gibt einen innerlich zerrissenen und doch glaubhaft geerdeten Danny Torrance. Da der Film seine Plotlines aber zunächst nicht allzu elegant jongliert, hat McGregor kaum Raum, um wirklich glänzen (bzw. „shinen“) zu können. Dafür spielt der Rest des Ensembles kraftvoll auf. Kyliegh Curran gibt eine resolute Abra Stone, und Rebecca Ferguson sowie Zahn McClarnon genießen ihre Rollen als Anführer des „Wahren Knoten“ in vollen Zügen (die Psi-Duelle zwischen Rose und Abra gehören zu den Highlights des Films und sind erfreulicherweise nicht völlig CGI-überfrachtet). Der Jungschauspieler Paul Tremblay (u.a. Wunder, Good Boys) bleibt in einer nicht allzu expliziten, aber aufgrund ihrer Länge sehr unangenehmen Szene im Gedächtnis, welche die schockierende Vorgehensweise des „Knotens“ offenbart („Schmerz reinigt ‚Steam‘…“). Unterstützt wird der Cast von Flanagan-Stammdarstellern Bruce Greenwood, Carel Struycken und Henry Thomas. Außerdem sind die Rollenauslegungen von Alexandra Essoe als Wendy Torrance und Carl Lumbly als Dick Hallorann ihren Vorbildern Shelley Duvall und Scatman Crothers erschreckend gut nachempfunden.

Nimm deine Medizin

Denn natürlich hat Flanagan es sich nicht nehmen lassen, den einen oder anderen Moment aus Kubricks Film nachzudrehen. Doctor Sleep strotzt vor Anekdoten, Referenzen und detailverliebten Anspielungen auf das Original – es soll hier nicht zu viel verraten werden (das würde auch den Rahmen sprengen), aber Kubrick-Anhängern sei geraten, Augen und Ohren offenzuhalten. Es ist faszinierend zu beobachten, wie die Fortsetzung mit der Shining-Mythologie spielt (wenn z.B. eine orchestrale Version des „Dies Irae“-Motivs erklingt, das in einer Synthie-Fassung in die Filmmusik des Vorgängers eingebaut war). Das atmosphärische Sounddesign und die Kameraführung mit ihren unterkühlten Overhead-Shots und aalglatten Fahrten orientieren sich an Kubricks Film, ohne diesen bloß zu kopieren. Erreichen kann gerade letztere ihn aber natürlich nicht, denn dafür ist sie zeitweilig einfach zu „effizient“ bzw. herkömmlich.  

Ironischerweise kann die Inszenierung gerade dort mit dem meisten Verve aufwarten, wo sie Kubrick am ehesten verhaftet sein müsste – denn im letzten Drittel (wo Buch und Film am weitesten auseinanderdriften dürften) dreht Flanagan so richtig auf. Hierzu ein kleiner Exkurs: Stephen King hat nie ein Geheimnis daraus gemacht, dass er Kubricks Verfilmung von The Shining nicht mochte (es war einiges an Überzeugungsarbeit nötig, um vom Meister die Erlaubnis zu erwirken, die Verfilmung der Fortsetzung im selben fiktiven Universum ansiedeln zu können, in dem auch Kubricks Film spielte – aus marketingtechnischer Sicht aber eine auf der Hand liegende Entscheidung). Das (wie obig erwähnt sehr persönliche) Thema eines liebenden Familienvaters, der seinen eigenen Dämonen erliegt und langsam, aber stetig zum Monster wird, scheint Kubrick tatsächlich nicht zu interessieren. In einem Interview hat King seine Abneigung folgendermaßen erklärt: „The book is hot, the movie is cold; the book ends in fire, the movie in ice.“ Das bezieht sich allerdings nicht nur auf die unterschiedlichen emotionalen Herangehensweisen von King und Kubrick, sondern auch auf die Handlungsebene selbst: im Buch gibt es das wiederkehrende Thema eines Heizungskessels, aus dem Jack Torrance regelmäßig Druck ablassen muss; als seine Zurechnungsfähigkeit zu schwinden beginnt, vernachlässigt er seine Aufgabe, sodass am Ende das ganze Hotel in die Luft fliegt. Diesen Schluss ignoriert Kubrick bekanntlich komplett (bei ihm entkommen Frau und Kind, während Nicholsons Figur im Schnee erfriert – jenes rätselhafte, unzählige Theorien auslösende Foto, das darauf folgt, sei hier außen vor gelassen), was zu einer bedeutenden Abweichung führt: im Shining-Filmuniversum steht das Overlook noch! Und dorthin verschlägt es die Hauptfiguren gegen Ende. Kaum noch mehr als eine Ruine, wimmelt es in seiner Schwärze von vor Zorn und Schmerz schreienden Geistern – so wirkt es fast noch gruseliger als zuvor. Hier, wo sich Altes und Neues begegnen, bietet der Film seine intensivsten Szenen, ohne sich je in Übertreibungen zu verstricken. Das furiose Finale ist dann eine wahre Freude, und der Coup am Schluss sollte sogar King versöhnlich stimmen können.

Fazit:

Funktioniert Doctor Sleep als Hommage an Kubricks Original? Bedingt, denn er kann sich zwar auf unterhaltsame Art und Weise dessen Bildern bedienen, sich aber nicht eingehend seine symbolträchtige Tiefe (die unzählige Interpretationsansätze hervorbrachte; man siehe z.B. die abgefahrene Doku „Room 237“) zunutze machen. Funktioniert Doctor Sleep als eigenständige Story? Bedingt, denn auch wenn der Film sein eigenes Ding macht, ist das Grundfundament stark im Vorgänger verankert. Doch immer wieder gibt es Momente dazwischen, die wie von Zauberhand funktionieren. In seinen besten Minuten wird der Film allem gerecht: Kubricks Film, Stephen Kings literarischer Vorlage und dem Vorgängerroman. Thematisch ist die Story eine, die es unbedingt wert ist, erzählt zu werden, denn es geht darum, dass man die Traumata der Vergangenheit nicht einfach wegschließen darf. Man kann nur eine Heilung und Weiterentwicklung in Gang bringen und den Kreislauf der Gewalt, die wie so oft von Generation zu Generation weitervererbt wird, durchbrechen, wenn man sich den Geistern der Vergangenheit stellt und den Schmerz teilen kann. So entfaltet der Film insgesamt weniger klassisch-krassen Horror, als vielmehr ein überraschend einfühlsames, düsteres Fantasy-Märchen.

Doctor Sleep ist genau das, was man erwartet, und gleichzeitig doch etwas ganz anderes. Man muss sich auf den Film einlassen können, aber es wäre definitiv zu schade drum, wenn er an den heimischen Kinokassen (im aus dem Aufzug strömenden Blut) untergeht.

DOCTOR SLEEPS ERWACHEN (OT: Doctor Sleep)

  • USA / Warner Bros.
  • dt. Kinostart: 21.11.19
  • Regie: Mike Flanagan
  • Drehbuch: Mike Flanagan (nach dem Roman von Stephen King)
  • Darsteller_innen: Ewan McGregor, Rebecca Ferguson, Kyliegh Curran, Carl Lumbly, Zahn McClarnon, Emily Alyn Lind, Bruce Greenwood, Jacob Tremblay, Alex Essoe, Jocelin Donahue, Cliff Curtis, Zackary Momoh
  • Musik: The Newton Brothers
  • Länge: ca. 152 Minuten
  • FSK 16

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