Mr. Harrigan's Phone

Film-Kritik von Marcel Scharrenbroich / Titel-Motiv: © Nicole Rivelli/Netflix

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Der Vorleser

Nach dem Tod der Mutter stürzten der junge Craig (Jaeden Martell) und vor allem sein Vater (Joe Tippett) in ein tiefes Loch. Der zurückgezogen lebende Milliardär John Harrigan (Donald Sutherland) nahm sich des Jungen an, der ihm fortan dreimal pro Woche aus Klassikern der Literaturgeschichte vorlas. Mr. Harrigan, dessen Augen im Laufe der Jahre immer schwächer wurden, schätzte die Anwesenheit des frischen Windes im luxuriösen Herrenhaus, was auf Gegenseitigkeit beruhte. Craig hatte sich im Vorfeld online über seinen neuen Arbeitgeber schlau gemacht und nicht davon abschrecken lassen, dass der alte Mann in der Finanzwelt einen eher fragwürdigen Ruf genoss. Skrupellos und ohne Gnade gegenüber Mitarbeitern und Konkurrenten, hieß es dort häufig. Der eher wortkarge Mr. Harrigan behandelte Craig aber von Beginn an auf Augenhöhe. So fühlte der Junge sich gehört und verstanden. Neben einer kleinen Aufwandsentschädigung schickte Mr. Harrigan an Feiertagen Grußkarten, die ein Rubbellos enthielten. Regelmäßig und pünktlich.

Daran hat sich auch nach fünf Jahren nichts geändert, obwohl Craig mittlerweile auf die High-School geht und man annehmen sollte, dass er da andere Interessen hätte. Schnell muss er feststellen, dass außerhalb der kleinen Stadt Harlow ein rauerer Ton herrscht. Gleich am ersten Tag macht er die Bekanntschaft des Schul-Rowdys Kenny Yankovich (Cyrus Arnold), einem bulligen Burschen mit mehr als nur einem Problem. Auf große Rückendeckung darf er nicht zählen, denn von den „coolen Kids“ ist Craig meilenweit entfernt. Dafür bräuchte er erstmal ein Smartphone, das Statussymbol Nr.1. Craigs Vater erfüllt ihm diesen Wunsch an Weihnachten und endlich darf er sein nigelnagelneues iPhone der ersten Generation in Händen halten. Doppeltes Glück, denn das obligatorische Rubbellos von Mr. Harrigan erweist sich an diesem Freudentag ausnahmsweise mal nicht als Niete. Stattliche 3.000 Dollar springen dabei raus. Als Dankeschön kauf Craig ein weiteres Smartphone und schenkt es Mr. Harrigan. Dieser zeigt sich zwar dankbar, ist von der neumodischen Spielerei aber gar nicht angetan. Das ändert sich, als Craig ihm die Wunderwelt des World Wide Web offenbart. Börsenkurse in Echtzeit, die heißesten News aus der Finanzwelt, immer brandaktuell und ohne Verzögerung. Print is dead, Baby! WOO-HOOOOO!!! Naja, SOOO aus dem Häuschen ist der betagte Mann nun nicht, aber neben den Vorlese-Stunden gibt Craig ihm nun noch Nachhilfe in Technik-Fragen. Und Mr. Harrigan lernt schnell.

Eines Tages, als Craig zu einem weiteren Termin zum Vorlesen auftaucht, findet er den alten Mann leblos in seinem Sessel vor. Stille erfüllt das Anwesen und Craig bleibt fassungslos zurück. Tieftraurig hat der Junge in der Aufregung das Smartphone von Mr. Harrigan eingesteckt, welches er heimlich bei der Trauerfeier am offenen Sarg in der Jackentasche seines früheren Arbeitgebers und Freundes deponiert. In einsamen Momenten, wenn der Druck an der High-School ihm über den Kopf zu wachsen droht, wählt Craig die Nummer von Mr. Harrigan und spricht ihm sein Leid auf die Mailbox. Eine bestimmt nicht alltägliche Form der Trauerbewältigung, aber es hilft ihm, da ihm die gemeinsamen Gespräche und das stets offene Ohr seines Gegenübers sehr fehlen. Da konnte Craig auch noch nicht ahnen, dass seine Anrufe nicht ungehört bleiben…

Zombie-Nation

Dass Smartphones heute aus der Gesellschaft nicht mehr wegzudenken sind, ist wohl hinreichend bekannt, aber FUCK… läuft das in Schulen mittlerweile wirklich so ab? Da sitzen ein Haufen Kids an unterschiedlichen Tischen, sortiert nach Marken ihrer Telefone? Wo sich früher noch Nerds, Goths, Sportler, selbsternannte It-Girls und sonstige Sonderlinge voneinander abspalteten, wird heute in SAMSUNG, APPLE & Co. gemessen? Sitzen sich gegenüber und texten sich mit steifen Nacken irgendwelche Kürzel. Dass mittlerweile ein Zungenbrecher wie „Ok“ schon mit „K“ abgekürzt wird, zerstört mich gerade komplett. Allzu weit sind wir wohl doch nicht mehr von Grunzlauten entfernt. Stylish wie Sau, geschminkt, gestriegelt und gebügelt… dafür Exkremente-werfend und gebückt laufend die Handrücken über den Asphalt schleifen. Gleich mal eine Insta-Story drüber machen…

Scherz beiseite, denn die moderne Kritik an der Smartphone-Faszination stammt aus der Feder eines Könners. Niemand Geringeres als Stephen King schrieb die Vorlage des von John Lee Hancock („The Blind Side“, „Saving Mr. Banks“, „The Highwaymen“) inszenierten Films, welcher seit dem 5. Oktober 2022 exklusiv auf NETFLIX zur Verfügung steht. Die Kurzgeschichte „Mr. Harrigans Telefon“ ist Teil der 2020 im HEYNE Verlag erschienenen Novellensammlung „Blutige Nachrichten“ und umfasst gerade mal 110 Seiten. Dass man aus Kurzgeschichten des Horror-Meisters abendfüllende Spielfilme macht, ist keine Seltenheit. Man denke nur an „Der Werwolf von Tarker Mills“, „Zimmer 1408“ oder „Der Nebel“, die allesamt großartig waren. Ganz oben in der Champions League spielt „Mr. Harrigan’s Phone“ vielleicht nicht mit, ist aber dank der versierten Regie von John Lee Hancock, dessen Neo-Noir-Thriller „The Little Things“ zu meinen persönlichen Film-Highlights des Jahres 2021 zählte, eine schon sehr gut gelungene Adaption des King-Stoffes. Der Film hält sich weitestgehend akribisch an die Vorlage, auch wenn der Schul-Schläger - trotz Handgreiflichkeiten gegenüber Craig - noch etwas zu handzahm dargestellt wurde. Hier war mir die Verzweiflung des Jungen etwas arg überdramatisiert. Auf einer Schule im Ruhrgebiet wäre Craig wahrscheinlich schon vor der ersten Pause den Lokus bis kurz hinter Schalke runtergespült worden.

Für die Hauptrollen konnte man zwei darstellerische Schwergewichte ihrer jeweiligen Generation gewinnen. Als John Harrigan ist der mittlerweile 87-jährige Donald Sutherland zu sehen. Fast ausschließlich sitzend, besitzt er doch eine enorme Präsenz, die der Rolle mehr als gerecht wird. Während seiner - inzwischen mehrere Jahrzehnte - umfassenden Karriere war Sutherland in fast jedem Genre zuhause. Vom Kriegsfilm („Das dreckige Dutzend“, „Stoßtrupp Gold“, „M*A*S*H“) über Thriller („Klute“, „Die Nadel“, „Enthüllung“), Komödien („Kentucky Fried Movie“, „Ich glaub’, mich tritt ein Pferd“, „Ein Schatz zum Verlieben“), Sci-Fi („Space Cowboys“, „Ad Astra“, „Moonfall“), Fantasy („“Die Tribute von Panem“-Reihe), Horror („Die Körperfresser kommen“, „Dämon“, „Virus“) bis hin zu „Wenn die Gondeln Trauer tragen“, „Backdraft“ oder „JFK - Tatort Dallas“, unumstößlichen Ausnahme-Titeln der Filmgeschichte.

An der Seite des Altstars glänzt Jaeden Martell. Der damals noch unter seinem Familiennamen Lieberher spielende Jung-Darsteller gab sein Debüt 2014 an der Seite von Bill Murray und Naomi Watts in „St. Vincent“. Auf Watts traf er erneut im großartigen Drama „The Book of Henry“, bevor er ab 2017 große Bekanntheit durch die King-Verfilmung „ES“ erlangte. Dort spielte er in beiden Filmen - und unter der Regie von Andrés „Andy“ Muschietti - die Rolle des Bill Denbrough. Im mit Auszeichnungen überhäuften Ensemble-Film „Knives Out“ von Rian Johnson gehörte er ebenfalls zum Cast. Für APPLE TV + war Martell 2020 an der Seite von Chris Evans in der Drama-Mini-Serie „Verschwiegen“ (OT: „Defending Jacob“) zu sehen. Damit hat der erst 19-jährige Darsteller schon Einiges in seinen Jungen Jahren erreicht. Und gemessen an seinen bisherigen Leistungen - inklusive der in „Mr. Harrigan’s Phone“ - wird man mit Sicherheit noch mehr von ihm hören und sehen.

Coming-of-Age mit Mystery-Touch

Dank Craigs Stimme aus dem Off sind wir rasch drin in der Story. Das schafft schnell Vertrautheit. Der Fokus liegt unweigerlich auf der Beziehung zwischen Craig und Mr. Harrigan, die nicht nur auf Grund ihres Altersunterschiedes weiter voneinander entfernt sein könnten. Für King-Leser durchaus keine ungewöhnliche Konstellation, hatten wir ähnliche Duos doch schon in „Der Musterschüler“, „Shining“ oder - mit anderen Absichten - in „Der Feuerteufel“. Auch in Stephen Kings neustem Roman „Fairy Tale“, für den die hier zu Grunde liegende Story eine Fingerübung zu sein schien, treffen wir auf ein ungleiches Gespann, aus dem nach Startschwierigkeiten eine Freundschaft über den Tod hinaus erwächst. Das Tempo ist behäbig, jedoch zu keiner Zeit lahm. Die Geschichte nimmt sich Zeit für ihre Figuren und baut damit ein glaubwürdiges Szenario auf. Das mag Horror-Puristen zu wenig sein, liegt jedoch schon am Ausgangsmaterial. Die Kurzgeschichte ist keine Horror-Story, sondern eine feinfühlige Erzählung, in die phantastische Elemente nur langsam und wohl dosiert Einzug halten. Verluste, Ängste… Themen, die allgegenwärtig sind. Dabei sagt Mr. Harrigan noch prophetisch die gesellschaftliche Smartphone-Abhängigkeit voraus und bringt es damit in nur wenigen Sätzen auf den Punkt: Konstante mediale Beschallung, ständige Erreichbarkeit, eine kaum zu bewältigende Informationsflut, die noch schwerer schadlos verarbeitet werden kann… DAS ist der wahre Horror.

Fazit:

Einen Horrorfilm sollte man trotz Beteiligung von Stephen King nicht erwarten. „Mr. Harrigan’s Phone“ ist in erster Linie ein Coming-of-Age-Drama über Verlust und Freundschaft, dem nach und nach Mystery-Elemente hinzugefügt werden. Ist man sich dessen bewusst, kann man dank der gelungenen Inszenierung und der hervorragenden Darsteller eine gute Zeit mit der Kurzgeschichten-Adaption von NETFLIX und BLUMHOUSE PRODUCTIONS haben.

Wertung: 8

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