The Changeling - Das Grauen

Film-Kritik von Michael Drewniok

Ein Toter pocht auf sein Recht

Nachdem Komponist John Russell Frau und Tochter verloren hat, versucht er den Neuanfang. In Seattle übernimmt er eine Stelle als Universitätsdozent und sucht ein ruhiges Heim. Claire Norman von der Historischen Gesellschaft der Stadt vermittelt ihm ein abgelegenes, schon lange leerstehendes Haus, das Russell. Er lebt sich ein, er komponiert wieder, und Claire kommt ihm näher.

Allerdings geht es nachts in dem alten Gemäuer um. Es pocht, eine Stimme wispert und klagt. Russell glaubt an die Erscheinung seiner Tochter, doch als er den Geräuschen folgt, stößt er auf eine vernagelte Tür und ein Geheimzimmer, in dem vor vielen Jahren ein Kind gelebt hat. Er lässt er sich auf eine Séance ein, in deren Verlauf der Geist seinen Namen offenbart: Joseph Carmichael.

Die Carmichaels gehören zur High Society der Stadt; das aktuelle Oberhaupt der Familie - ebenfalls Joseph mit Vornamen - ist sogar Senator. Ursprünglich gehörte den Carmichaels das Haus, in dem nun Russell lebt. Sie zogen aus, als Joseph im Alter von neun Jahren nach einem schweren Unfall in ein europäisches Sanatorium eingeliefert wurde.

Wer also ist jener „Joseph“, der in dem Haus spukt? Russell und Claire stellen Nachforschungen an. Sie kommen einem Komplott auf die Spur, das Eugene Carmichael, Josephs Vater, vor über sieben Jahrzehnten eingefädelt hat, um seiner Familie ererbtes Geld und Macht zu bewahren. Joseph, der Geist, fordert Gerechtigkeit, sogar Rache, und Russell soll sein Sprachrohr sein. Als er erkennt, wie weit Joseph gehen will, sträubt er sich und fordert daraufhin einen wahrhaft unheimlichen Zorn herauf …

Hüte dich vor diesem Haus!

Das alte Haus, in dem ein Geist haust, stellt einen der Grundpfeiler der Phantastik dar.

Die elementare Furcht vor der Heimsuchung dort, wo man ihr schutzlos ausgesetzt ist, lässt eine immer gleiche Geschichte ihre Wirkung bewahren. Dazu bedarf es einer Schnittstelle zwischen den Zuschauern und dem armen Tropf, der in ein Geisterhaus geraten ist. In „Das Grauen“ lässt die Wirkung nicht auf sich warten: Wir sind oft mit John Russell und dem Geist im alten Carmichael-Haus allein.

Eine gute Geistergeschichte benötigt Anlaufzeit. Das Carmichael-Haus wirkt innen durchaus gemütlich, auch wenn es riesig ist und an der Beleuchtung gespart wurde. Alte Häuser geben Geräusche von sich, sodass anfängliche Seltsamkeiten von John Russell als Täuschung abgetan werden.

Wer hat sich nicht schon über Geschichten geärgert, in denen der Geist hartnäckig nur dem Helden oder der Heldin erscheint, der oder die deshalb einen Zweifrontenkampf führen muss: gegen den Spuk und gegen die Zwangsjacke. Solche Spielchen bleiben uns in diesem Film erspart. Wenn Joseph umgeht, registriert dies jeder, der im Haus ist. Das Spuk-Phänomen wird ernstgenommen. Irgendwann tritt sogar ein Wissenschaftler auf, der Russell (und dem Zuschauer) einen Schnellkurs in Sachen Parapsychologie erteilt.

Spuk und Wissenschaft

Die 1970er Jahre waren eine Blütezeit der ‚ernsthaften‘ Parapsychologie, der in Deutschland sogar ein Lehrstuhl an einer echten Universität (Freiburg) eingerichtet wurde. Neue naturwissenschaftliche Erkenntnisse über das menschliche Gehirn und die Entwicklung einer Technik, die der Forschung Wege in neue Welten öffnete, schienen auch den Blick in das „unentdeckte Land“ jenseits des Todes zu ermöglichen. Dies war ein Trugschluss, aber der Hightech-Ghostbuster blieb immerhin der Populärkultur erhalten.

Es fehlt denn auch nicht der Hinweis, dass diese Geschichte „auf Tatsachen beruht“. Russell Ellis Hunter, der die Vorlage für das Drehbuch schrieb, behauptete, Ähnliches wie John Russell erlebt zu haben, als er in Denver (US-Staat Colorado) in der Henry Treat Rogers Mansion wohnte.

Da er Skepsis als Stilmittel weitgehend ausblendet, kann sich Regisseur Peter Medak auf die eigentliche Geschichte konzentrieren. Er verstärkt dies durch den Verzicht auf die genreübliche, aber lästige Love-Story; dass sich John und Claire näherkommen, fließt gänzlich nebenbei ein. Im Zentrum steht das Rätsel: Was ist im Jahre 1909 im dem Haus geschehen, und auf welche Weise ist die Familie Carmichael darin verwickelt?

Erscheinung mit Vorlaufzeit

Die Handlung wird zur Schnitzeljagd auf Indizien und Beweise. Dabei bricht Medak mit weiteren, angeblich bindenden Film-Regeln. Die Zuschauer erwartet, dass sich das Geschehen auf das Carmichael-Haus konzentriert oder sogar beschränkt. Stattdessen verlässt die Handlung zwischenzeitlich diesen Ort und verlagert sich auf eine ehemalige Farm an gänzlich anderer Stelle. Sogar neue Figuren werden eingeführt. Dies ist der Story und einer Logik geschuldet, die sich eher an der Realität als an der Dramaturgie orientiert.

Anno 1979 und damit tief in der analogen Vergangenheit war die Visualisierung eines ‚glaubwürdigen‘ Gespenstes schwierig. Medak machte aus der Not eine Tugend und erinnerte sich daran, dass ein guter Geist nur ansatzweise sichtbar ist. Man muss oder sollte ihn gar nicht deutlich sehen, sondern eher ahnen.

Also schlüpft die ungemein wendige Kamera von John Coquillon in die Rolle des Joseph und gleitet scheinbar schwerelos durch Räume und Wände. Es ist hilfreich, dass der Film nicht in einem echten Haus entstand. Die Innenräume wurden im Studio errichtet. Für die Außenaufnahmen baute man die Fassade der Carmichael-Villa in Originalgröße, weshalb die finalen Brandszenen ohne Spezialeffekte und sehr effektvoll gedreht werden konnten.)

Zeit ist (für Geister) relativ

Wie plausibel ist diese Geschichte? Der Realist wird zu Recht auf zahlreiche Logiklöcher hinweisen. Erneut nimmt Medak primär die Story ernst: Hier strickt kein Mastermind seit Jahrzehnten an einem genialen Racheplan. Der Geist war einst ein neunjähriges Kind - und das ist Joseph geblieben. Im Tod ist er keineswegs erwachsen geworden. Folgerichtig setzt er dort an, wo er 1909 aufgeben musste, weil jene, die er zur Rechenschaft ziehen wollte, das Haus verließen, an das er offensichtlich gebunden ist.

Deshalb ist es nicht unlogisch, sondern tragisch, dass sich Josephs Vergeltung nun gegen seinen alt gewordenen ‚Bruder‘ richtet, der im Grunde selbst ein Opfer von Eugene Carmichael ist (der anscheinend reich und friedlich in seinem Bett starb). Joseph versteht dies nicht, oder es ist ihm egal, weil er kein Empfinden für die Zeit hat, die seither verstrichen ist.

Russell misslingt es Joseph begreiflich zu machen, dass er auf wahre Gerechtigkeit nicht hoffen darf. Auch in dieser Rolle weicht „Das Grauen“ vom Horror-Standard ab: Russell will helfen, aber er lässt sich weder unter Druck setzen noch als Instrument der Rache missbrauchen. Als Joseph dies merkt, richtet sich sein Zorn auch gegen Russell.

Ein Mann mit Charakter

Obwohl Emotionen eine große Rolle spielen, mag „Das Grauen“ vielen Zuschauern eher ‚sachlich‘ erscheinen. Es liegt wohl an der Abwesenheit einer Zutat, die im Film allzu selbstverständlich geworden ist: „Das Grauen“ erzählt eine Geschichte ohne Sentimentalitäten. So ist John Russell ein verletzter, aber nicht gebrochener Mann. Er trauert um seine Familie, hat jedoch wieder Lebensmut gefasst, sogar eine neue Beziehung bahnt sich an. Russell ist kein Opfer. Wenn es im Haus knarrt und flüstert, geht er dem auf den Grund. Er zieht nicht aus, sondern stellt sich bewusst einem Phänomen, das ihn ängstigt, aber nie in Panik versetzt.

George C. Scott (1927-1999) ist eine Idealbesetzung für diese Rolle. Er nahm die Schauspielerei bitterernst und wurde vor und hinter der Kamera wegen seines Eigensinns und seines Perfektionismus‘ (sowie seines Jähzorns) gefürchtet. In die Filmgeschichte ist er u. a. deshalb eingegangen, weil er auf offener Bühne die Annahme des „Oscars“ verweigerte, der ihm (in jeder Hinsicht zu Recht) 1971 für die Hauptrolle im Film „Patton“ überreicht werden sollte: Scott lehnte den Wettbewerb unter Schauspielern als unseriös ab.

Die Rolle der Historikerin Claire Norman übernahm Trish Van Devere, Scotts Ehefrau und selbst eine renommierte Schauspielerin. Sie ist nicht mehr jung, wie überhaupt Teenies in diesem Film ohne Bedeutung sind. Leider gibt es für Van Devere keine echte Daseinsberechtigung in dieser Geschichte. Deshalb leistet sich Medak die einzige echte Schwäche des Films: Allzu genretypisch lässt er Claire kurz vor dem Finale allein ins Haus geraten. Dort wird sie von einem führerlosen Rollstuhl (!) über drei Stockwerke gejagt und soll dabei Panik mimen, wo sie sich wohl eher das Lachen verbeißen muss.

Handwerk auf hohem Niveau

Für die kleine, aber prägnante Rolle des Senators Carmichael konnte Medak Melvyn Douglas (1901-1981) engagieren. Er war ein Repräsentant der „Goldenen Ära“ Hollywoods vor dem Zweiten Weltkrieg - u. a. hatte er dreimal mit Greta Garbo gedreht -, dem es gelungen war, auch im „New- Hollywood“-Kino der 1970er Jahre präsent zu bleiben; für seinen Auftritt in „Being There“ (dt. „Willkommen Mr. Chance“) hatte er 1979 einen zweiten „Oscar“ gewonnen, bevor er für „Das Grauen“ nach Kanada reiste.

Auch hinter der Kamera sorgten Meister ihrer Fächer für ein intensives Filmerlebnis. Die Kamera von John Coquillon wurde bereits lobend erwähnt. Musik spielt in „Das Grauen“ eine wichtige Rolle; Rick Wilkins komponierte sie (in Vertretung von John Russell), und Peter Medak, ein ungemein agiler Regisseur, der auf eine Jahrzehnte währende Laufbahn in Film und Fernsehen zurückblicken kann, wusste sie wirkungsvoll einzusetzen.

Manche Effekte sind natürlich altmodisch bzw. abgedroschen. Dennoch belegt „Das Grauen“ eindrucksstark eine ‚andere‘ Phantastik, die in den 1970er Jahren bewährte Hollywood-Handwerkskunst mit aktuellen Themen zu verbinden wusste. „Das Grauen“ hat nicht das Kaliber von „Das Omen“ oder „Der Exorzist“, gehört aber in die Reihe dieser gelungenen und modernen Horrorfilme und kann diesen Status auch im 21. Jahrhundert unter Beweis stellen.

"The Changeling - Das Grauen" PrimeVideo 

Bilder: © Pandastorm Pictures

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