Vetala - Staffel 1

Serien-Kritik von Michael Drewniok / Titel-Motiv: © Hitesh Mulani / Netflix

Attacke der LED-Glotzaugen-Zombies

In den 1850er Jahren sorgte Colonel John Lynedoch im Dienst der britischen Krone bzw. der „East India Company“ mit seinem Regiment, den „90th Taunton Volunteers“, für Angst und Schrecken im zwangskolonisierten Indien. Brutal und gnadenlos schlug Lynedoch die Aufstände indischer ‚Rebellen‘ nieder, mehrte dabei seine Macht - und verfiel dem Größenwahn: Lynedoch träumte von der Herrschaft über Indien.

Stattdessen wurde er mit seinen Männern während des Aufstands von 1857 in einen unvollendeten Bergtunnel im Norden Indiens getrieben, dessen einzigen Zugang die Freiheitskämpfer sprengten. Die „90th Taunton Volunteers“ saßen in der Falle, doch Lynedoch, ein Anhänger der Schwarzen Magie, ging einen Pakt mit dem Dämonengott Betaal ein. Als Untoter fiel er über seine Männer her und verwandelte sie in Zombies, die seither im Tunnel auf ihre ‚Befreiung‘ warten, um die Eroberung Indiens wiederaufzunehmen. Um dies zu verhindern, übernahmen die Bürger des nahen Dorfes Nilja die Wache am verschütteten Tunnel.

Mehr als anderthalb Jahrhunderte später soll die Region erschlossen werden. Den Tunnel will man für eine Schnellstraße nutzen. Als sich die Dorfbewohner sträuben, alarmiert der skrupellose Geschäftsmann Ajay Mudhalvan die von ihm geschmierte Kommandantin Tyagi. Sie befehligt die „Baaz Squad”, eine Spezialeinheit des „Counter Insurgency Police Department” (CIPD), soll Nilja ‚räumen‘. Zusammen mit ihrem Kommandanten Vikram Sirohi hat Tyagi schon mehrfach ähnliche ‚Probleme‘ gelöst und dabei nie Zeugen zurückgelassen. Auch dieses Mal wird der Widerstand gewaltsam gebrochen und der Tunnel geöffnet. Darauf hat Lynedoch gewartet. Die „Baaz Squad“ wird überrannt und muss sich in eine alte, leerstehende Kaserne aus der Kolonialzeit flüchten. Notgedrungen rauft man sich dort mit der ‚Rebellin‘ zusammen, die über Lynedoch und seine Pläne informiert ist.

Einige Mitglieder der „Baaz Squad“ haben im Kampf mit den Untoten Bisswunden davongetragen. Sie verwandelt sich in Zombies, die von Lynedoch ‚ferngesteuert‘ werden. Als ‚Relais‘ dient die vom Colonel besessene Tyagi. Während die „Taunton Volunteers“ die Kaserne umstellen, tobt innen der Kampf zwischen Kameraden, die einander nicht mehr trauen dürfen. Feigling Mudhalvan strebt ein Bündnis mit Lynedoch an und bietet ihm die ebenfalls anwesende Tochter als Opfer an. Lange erkennt nur Sirohi die Situation, aber er hütet ein eigenes, schreckliches Geheimnis, das Lynedoch als Schwachstelle erkennt und nutzt …

Eine gute Idee …

Asien ist ein riesiger Kontinent, der die Mehrzahl der Menschen auf diesem Globus beherbergt. Neben China ballen sie sich vor allem in Indien, einem Land, das politisch, wirtschaftlich und kulturell zu den Großmächten des 21. Jahrhunderts gehört, aber gesellschaftlich noch tief in der Vergangenheit steckt. Die Regierung ist autoritär, Oppositionelle werden als „Terroristen“ und „Staatsfeinde“ verunglimpft und verfolgt. Religiöse Spannungen heizen den Konflikt an. „Vetala“ thematisiert dies, wenn das Dorf Nilja dem ‚Fortschritt‘ buchstäblich weichen muss und seine Bewohner „zu ihrem eigenen Schutz“ zwangsdeportiert oder gar umgebracht werden. In der Realität gibt es keine CIPD, doch wer sich nur ein wenig in der indischen Gegenwart auskennt, wird entsprechende ‚Vorbilder‘ entdecken.

Zur interessanten Ausgangssituation gesellt sich eine von Film und Fernsehen außerhalb Indiens weitgehend unentdeckte Kulisse mit reichlich eingesprengtem Lokalkolorit. Ebenfalls kurzweilig sind die vielversprechende Verankerung in der Historie des Subkontinents sowie die Verwurzelung in der örtlichen Mythenwelt, die mit Dämonen, Geistern u. a. Schreckensgestalten reich gesegnet und unerhört komplex ist.

„Vetala“ stützt sich auf die „Baital Pachisi“, eine Sammlung altindischer Legenden, die vom König Vikramāditya und seinem Kampf gegen einen bösen Geist namens „Vetala“, „Baital“ oder „Betaal“ erzählt. Diese Geschichten sind in Indien weiterhin populär; so wurden sie 2018 (wieder einmal) unter dem Titel „Vikram Betaal Ki Rahasya Gatha“ ins indische Fernsehen gebracht.

… wird aufgegriffen und aktualisiert …

In Indien entstehen weitaus mehr Filme und TV-Serien als in Hollywood. Mehr als eine Milliarde potenzieller Zuschauer bilden ein Publikum, das gierig auf ‚Input‘ ist. Gleichzeitig öffnet sich die Welt generell mehr und mehr durch die Globalisierung, weshalb man neugierig über den jeweiligen Tellerrand schaut: Was gibt es beim Nachbarn Unterhaltsames, das wir noch nicht kennen, aber womöglich ebenfalls mögen? Das lässt bei Geschäftsleuten die Alarmglocke klingeln: Hier existiert ein Bedarf, den wir in klingende Münze verwandeln können!

Es kommt zu Kooperationen, die so vor der Internet-Ära nicht denkbar gewesen wären. Der Streaming-Dienst „Netflix“ produziert längst selbst einen Teil der von ihm ‚ausgestrahlten‘ Ware. Zusätzlich arbeitet er mit exotischen Filmnationen wie Indien (oder Deutschland) zusammen, stellt Mittel und Knowhow zur Verfügung und präsentiert das Ergebnis auf der „Netflix“-Plattform. Dahinter steckt die Erwartung (oder Hoffnung), dass diese Öffnung neuen Talenten einen Weg ebnet, auf dem ihnen möglichst viele (zahlende) Zuschauer folgen.

Patrick Graham, ein Schüler der „London Film School“, lebt und arbeitet seit 2010 im indischen Mumbai. Dort konnte er allmählich als Drehbuchautor und Regisseur etablieren. Einem Spielfilm („Phir Se“, 2011) folgte 2018 die Horror-Mini-Serie „Ghul“, die bereits in Zusammenarbeit mit „Netflix“ (bzw. „Netflix International Originals“) entstand. Der moderate, aber internationale Erfolg sorgte für die Realisierung von „Betaal“, wobei Graham (wie schon bei „Ghul“) mit einem indischen Ko-Autor die Drehbücher schrieb sowie die vierteilige Serie mit einem Ko-Regisseur inszenierte.

… und in den Sand gesetzt

Grundsätzlich sind alle Weichen für eine reibungslose = unterhaltende Höllenfahrt gestellt. Das Budget ist nicht üppig, aber es wird ökonomisch eingesetzt, die Kameraführung ist konventionell, glänzt aber zwischendurch mit gelungenen, eindrucksvollen Bildern. Wieso stellt „Vetala“ trotzdem eine Enttäuschung dar?

Primär liegt es an der Erkenntnis, dass offenkundig auch in der Ferne nur mit Wasser gekocht wird. Anders ausgedrückt: Dass eine moderne Horror-Serie in Indien entsteht, sorgt keineswegs für frische Funken in einem alten Genre. Stattdessen müssen wir erleben, dass wieder in erster Linie Klischees und Dümmlichkeiten ihren Weg auf den Monitor gefunden haben - Eigenschaften, die uns aus ‚heimischen‘ Produktionen sattsam bekannt sind und für deren Wiederentdeckung der Aufwand des Ansehens wahrlich nicht lohnt.

Wer keine Ansprüche an Film-Horror stellt, mag durchaus zufrieden mit „Vetala“ sein. Hat man auf mehr gehofft, wird man wie gesagt mit einer wahren Leistungsschau blödsinniger Handlungswendungen, bodenloser Drehbuchlücken und schlichter Unlogik konfrontiert. ‚Gekrönt‘ wird das Ganze durch Figuren, die entweder tragisch-tapfer oder höllisch-böse wirken sollen, tatsächlich aber pathetisch bis bescheuert wirken, agieren und reden: Bollywood wird zum Maßstab, was auch die Länge einer Geschichte erklärt, die kaum Stoff für die Hälfte der Laufzeit bietet. (Immerhin tanzen und singen die Zombies nicht …)

Viel reden, prinzipiell falsch Handeln

Sämtliche Figuren sind mit persönlichen Problemen und traurigen Vorgeschichten belastet, die im Laufe der Ereignisse episch diskutiert, aufgearbeitet oder gar in Rückblenden aufgedeckt werden. Kadavergehorsam und die Überbetonung familiärer Pflichten mögen dem kulturellen Umfeld geschuldet sein. Aus ‚westlicher‘ Sicht werden sie jedenfalls ad nauseam dort übertrieben, wo schlichte Handlung die bessere Alternative wäre.

Dass die schauspielerischen Leistungen erschreckend suboptimal sind - hervorzuheben sind Syna Anand als stocksteife, in jede Falle tappende Saanvi Mudhalvan und Jatin Goswami als in jeder Situation überforderter Kommisskopp Assad Akbar, aber auch Hauptdarsteller Vineet Kumar Singh als Vikram Sirohi, der partout nicht erkennen will, dass die schlagartig weißhaarige, gebückt umherschleichende, starräugige Tyagi Lynedochs Sockenpuppe geworden ist.

Die Verteufelung oppositioneller Dorfbewohner, die sich gegen das ihnen angetane Unrecht wehren, ist als Subtext interessant, aber die eingebrachte Systemkritik löst sich in Luft auf, sobald die Zombie-Briten marschieren: Nur bedingt mitreißend in Szene gesetzte Action-Szenen wechseln sich nunmehr mit theatralischen Opfergängen ab, bis endlich eine denkbar plump ins Geschehen geschmuggelte Bombe explodiert und dem Grauen ein Ende macht. (Scheinbar, denn eine absolut logikfreie Final-Wende deutet/droht eine mögliche Fortsetzung an.)

Die Pappkopf-Zombies kommen - und sie leuchten!

Die Dämonen des Asia-Kinos wirken auf westliche Betrachter oft eher komisch als unheimlich. Fehlendes Hintergrundwissen ist eine Ursache, hinzu kommt ein traditioneller Symbolismus, der über die glaubhafte Vermittlung gestellt wird. Obwohl „Vetala“ sich in dieser Hinsicht vergleichsweise moderat gibt, werden „Feigheit“, „Gewissensbisse“, „Angst“ etc. nicht dargestellt, sondern theatralisch übertrieben und endlos zelebriert. Ein typisches Beispiel: Rekrut Haq verwandelt sich in einen Untoten. Cousin Assad, sein Mentor, mag ihn nicht töten und windet sich buchstäblich in Gewissensqualen, obwohl Dämonen-Haq aus seiner Unmenschlichkeit keinen Hehl macht, denn: „Was soll ich der Tante sagen?“ (Andererseits ist es Haq, der seinen Gegnern und uns Zuschauern irgendwann und aus heiterem Himmel über Lynedochs Geschichte und Pläne informiert - und damit den Spannungsbogen zusammenstürzen lässt.)

Die Zombies folgen grob der örtlichen Mythologie, soll heißen: Eigentlich sind es eher Vampire, die nach anderthalb Jahrhunderten Oberflächenferne ohne Gegenwartsscheu ihr absurdes Treiben fortsetzen. (Colonel Lynedoch, der schon im Tunnel schmachtete, als Alexander Graham Bell das Telefon erfand, weiß, wie man Funk und Handys stört.) Zum Glück gehen ihre menschlichen Gegner mindestens ebenso planlos vor wie sie. Entweder marschieren die Zombies durch den Nachtwald, stehen ‚bedrohlich‘ herum oder stürmen durch diverse Innenräume, wo sie im Rudel gegen verschlossene Türen trommeln. (Wieso konnten sie sich eigentlich in mehr als anderthalb Jahrhunderten nicht selbst ausgraben? Mudhalvans Bauarbeiter entfernen die ‚Barriere‘ binnen eines Nachmittags.)

Sobald sie sich ungeschützt durch Entfernung und Dunkelheit zeigen, sorgen diese Zombies für Heiterkeit: Ihre von Tod und Zeit zerfressenen Gesichter wirken wie aus feuchtem Zeitungspapier und Matsch geformt. Geprägt wird diese Fratze durch die Staketenzähne eines Tiefseefisches und durch halbkugelförmige Glotzaugen, die durch LED-Lichtlein rot erleuchtet werden. Der Gesamteffekt ist durchaus atemberaubend, aber eben nicht so, wie Graham und Mahajan es definieren würden.

Abschließend wird wieder einmal deutlich, dass auch Horror in sich logisch sein muss. Das Drehbuch von „Vetala“ setzt auf Wendungen, die dem Effekt gehorchen, ohne sich in die Gesamtstory einzufügen oder sie voranzutreiben. Im Gedächtnis bleiben einige gelungene Gruselszenen und ansonsten ein ‚Epos‘, das spätestens in der dritten Folge zum geschmacklosen Durchschnittshorror gerinnt.

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