Die große Nacht

  • Rowohlt
  • Erschienen: Januar 2012
  • 0
Die große Nacht
Die große Nacht
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Jana Jeworreck
87°1001

Phantastik-Couch Rezension vonJul 2014

Ein zauberhaft psychotischer Sommernachts(alb)traum

Wie seit vielen Jahren feiern die Elfenkönigin Titania und ihr Gefolge die Sommersonnenwende mit großem Pomp und Protz im Buena-Vista-Park in San Francisco. Doch in diesem Jahr trauert sie noch immer um ihren verstorbenen, menschlichen Knaben, der von Puck der Königin und ihrem Gemahl Oberon zum Geschenk gemacht wurde, und deshalb herrscht unter den Feiernde wenig Enthusiasmus bei der Umsetzung der Midsommerrituale. Zu allem Überfluss wurde Titania auch noch von Oberon verlassen und trotz großer Suchaktionen der Dienerschaft, bleibt er in der Stadt San Francisco verschollen.

Um ihn durch einen letzten verzweifelten Akt zur Rückkehr zu bewegen, beschließt die Elfenkönigin die Bestie Puck von den Fesseln der Dienerschaft zu befreien und stürzt damit nicht nur sich selbst und ihr Gefolge, sondern auch einige Menschen, die sich aus verschiedenen Gründen zur Nacht im Park befnden, ins Verderben.

 

Sie hatte das Wort ganz ruhig ausgesprochen, aber es war laut wie ein Signalhorn überall auf dem Hügel zu hören, und etwas leiser in ganz San Francisco, ...

 

Shakespeare or no Shakespeare, das ist die Frage ...

Man muß das Theaterstück "Ein Sommernachtstraum" von William Shakespeare nicht kennen, um die fantastische Geschichte des amerikanischen Autors Chris Adrian zu verstehen und zu genießen. Sein Buch ist eine freie Variation über Liebe, Lust und Leid, die schon das Shakespearesche Werk prägen und er bedient sich nur teilweise der Welt des Theaterstückes. Es ist beinahe so, als wären Titania und Oberon nach den Ereignissen in Athen einfach weitergezogen und lebten nun tausende Jahre später zufällig im Buena-Vista-Park in San Francisco. Ihr Kampf um einen Menschenknaben hat sich wie schon häufiger zuvor wiederholt, nur dass der Junge dieses Mal zu früh verstarb und deshalb ein längerer und ernsterer Zwist zwischen dem Elfenpaar entstanden ist. Oberon hat Titania verlassen.

Die aus Groll gegen den abwesenden Gatten eingesetzte Magie ist keineswegs harmlos. Von einer Laune geritten wird Puck, der hier eben kein harmlos spielender Elfentroll ist, sondern eine ausgewachsene Bestie, von Titania losgelassen, in der Hoffnung, dies möge Oberons Aufmerksamkeit erregen oder sie durch den eigenen Tod endlich von ihrem Leiden befreien.

Chris Adrian arbeitet mit den Mitteln des magischen Realismus. Traum und Wirklichkeit gehen nahtlos ineinander über und neben Magie im ganz fantastischen Sinne, spielen auch die eigene Phantasie und allerlei Sinnestäuschungen eine entscheidene Rolle. Zudem führt der Autor auch den Leser mit dichter, poetischer Sprache in diese Zwischenwelt. Obwohl der Plot, getragen durch die perönlichen Geschichten von Molly, Will, Henry und dem Obdachlosen Huff vorwärtstreibt, läuft man Gefahr sich ebenso in den Fallstricken der zauberhaften Sprache zu verheddern, wie die Figuren in dem magisch veränderten Park.

Sowohl inhaltlich als auch formal wird der Leser ständig gefordert, seine Aufmerksamkeit beizubehalten, denn manchmal ist es nur ein Wort inmitten eines langen Satzes, das die Wendung zum Surrealen kennzeichnet. Außerdem springt der Inhalt auch zwischen Vergangenheit und Gegenwart, zwischen Möglichem und Geschehenem, zwischen Realität und irregeführter Wahrnehmung. Mitunter liegt bereits in der Vergangenheit der Protagonisten soviel Seltsames, dass es reichlich fantastisch wirkt.

Innen ist Außen und Außen ist Innen

Vielschichtig, intelligent und psychologisch komplex webt der Autor eine Geschichte, in der die Probleme aller menschlichen Verirrten die große Nacht noch verhängnisvoller machen, als sie ohnehin durch den emotionalen Frust einer von ihrem Gatten verlassenen und rachsüchtigen Elfenkönigin schon geworden ist. Die Entwicklung hierbei ist weder oberflächlich amüsant noch ein Verwirrspiel mit Happy End, sondern eine ernste Angelegenheit, die das Leben der Protagonisten bedroht, was diese allerdings keineswegs begreifen.

 

"Elfen", sagte Will, nachdem er alle drei der Reihe nach gemustert hatte und vor Lyon, der nahe bei ihm stand, einen Schritt zurückgewichen war.
"Gibt´s nicht", sagte Henry.
"Allerdings nicht!", sagte Molly und schubste Will, der ihr auf die Zehen trat, mit einer heftige Bewegung weg. "Die sind nicht echt. Die hab ich erfunden. Genau wie ich euch erfunden habe. Wisst ihr, was da draussen vor dem Tor steht?"

 

Die in einer streng religiösen Familie großgewordenen Molly kämpft noch immer mit inneren Dämonen aus der Vergangenheit, ebenso ergeht es dem schwulen Henry. Auch Will, der Baumspezialist bearbeitet sein Gefühlschaos, das aus dem Konflikt zwischen seiner Liebe zu einer Frau und ausschweifenden sexuellen Abenteuern besteht.
Die Elfenmagie sorgt dafür, dass diese unter der Oberfläche schwelenden Konflikte unkontrolliert ausbrechen und wie Psychosen die Betroffenen überfallen. Ebenfalls wird der Penner Huff, der mit seinen obdachlosen Freunden ein Theaterstück über den korrupten Bürgermeister probt, in seiner Wahrnehmung bestätigt und geschickt Titania mit diesem politisch engagiertem Anführer des Proletariats zusammengeführt.

 

"Seid Ihr vom Amt des Bürgermeisters?", rief Huff zu der Dame hinunter, die jetzt sehr nahe herangekommen war, dass er sie genauer betrachten konnte. Sie war sehr groß, ihr Gesicht war streng, und die Streitaxt in ihren Armen war ganz entschieden undamenhaft, auch wenn sie ihn an so manche Dame denken ließ, der er begegnet war.

 

Unaufhaltsam stürzen die vier Menschen in den Strudel der Ereignisse und verheddern sich immer weiter im Netz der Magie, Psychologie und Phantasie, bei den Versuchen das Geschehen irgendwie rational zu erklären.

Fazit

Das Buch ist keine Lektüre für Zwischendurch, denn die Sprache ist anspruchsvoll. Aus diesem Grund sei an dieser Stelle auch der Übersetzer Thomas Piltz erwähnt, der die literarische Qualität gut eingefangen hat. Dadurch und durch den Umstand, dass sich Geschichte schwer in ein Genre einordnen läßt, ist der Roman nichts für jedermann.
Auch wenn es in der Mitte des Romans gelegentlich zu einigen Längen kam, hat mir das Buch nach anfänglicher Skepsis aufgrund der ausnehmend schönen Sprache, der poetischen Beschreibungen mit überraschenden Wendungen, der Einblicken in die psychologische Magie und des intelligenten Witzes sehr gut gefallen.

Die große Nacht

Chris Adrian, Rowohlt

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