Nachtspuk - Unheimliche Geschichten

  • Bastei-Lübbe
  • Erschienen: Januar 1984
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Nachtspuk - Unheimliche Geschichten
Nachtspuk - Unheimliche Geschichten
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Michael Drewniok
80°1001

Phantastik-Couch Rezension vonJun 2016

Acht außerordentlich ungebetene Besuche aus dem Jenseits

Acht kurze und lange Geschichten aus den Jahren 1837 bis 1978 belegen unterhaltsam die Entwicklung des "modernen" Horrors:

  • Fitz-James O'Brien: Das Phantom (What Was It?, 1859), S. 7-22: Der Fang eines unsichtbaren Wesens hinterlässt Schrecken und Fragen, die ohne Antwort bleiben.
  • Wilkie Collins: Miss Dulane und der Lord (Miss Dulane and My Lord, 1886), S. 23-53: Für den Verzicht auf die Liebe bezahlt der junge Edelmann mit Herzeleid und beinahe mit seinem Leben.
  • Charles Dickens: Die Geschichte des Handlungsreisenden (The Bagman's Story, 1837), S. 55-70: Ausgerechnet ein Geisterstuhl (!) ebnet dem Reisenden den Weg zum Herz einer ansehnlichen Witwe.
  • Frederick Marryat: Der Wolf (The White Wolf of the Harz Mountains, 1839), S. 71-93: Rachsüchtige Naturgeister verfolgen eine Familie, bis auch das letzte Mitglied grausam stirbt.
  • H. P. Lovecraft: Das gemiedene Haus (The Shunned House, 1928), S. 95-129: Das Fundament eines alten Hauses beherbergt eine grausige Kreatur, die des Nachts über die Bewohner kommt.
  • C. A. Smith: Teichlandschaft mit Erlen und Weiden (Genius Loci, 1933), S. 131-154: Ein verdorbener Ort wirft seinen mörderischen Zauber über unvorsichtige Besucher.
  • Stephen King: Manchmal kommen sie wieder (Sometimes They Come Back, 1974), S. 155-192: Die Schrecken seiner Kindheit suchen ihn erneut mordlustig heim, aber dieses Mal stellt er sich ihnen entgegen.
  • Ramsey Campbell: Durchblicke (Through the Walls, 1978), S. 193-221: Das traute Heim verwandelt sich in den Ort eines namenslosen Schreckens, der nach und nach alle Familienmitglieder heimsucht.

Etwas Neues, viel Altes, noch mehr Schwarzes

Die Anthologie ist nicht nur aber offenbar vor allem hierzulande ein Stiefkind des Buchhandels, der ohnehin immer mehr zum Massenmarkt für stromlinienförmige Bestseller verkommt. Dabei sollte eine Storysammlung den Leser wie eine Wundertüte locken. Genau dies scheint das Problem zu sein: Niemand will die Katze im Sack kaufen, die hier jene Geschichte darstellt, die das Gefallen des Käufers nicht finden kann.

So darf es nicht wundern, dass die "großen" Verlage nur noch selten Anthologien veröffentlichen. Noch Ende des 20. Jahrhunderts war das anders - und besser, denn wie sonst sollte der Horror-Freund klassischen und neuen Grusel besser kennenlernen als im Rahmen einer Sammlung, die mehrere Autoren vorstellt? Der Freude einer verheißungsvollen Entdeckung folgte prompt die Suche nach weiteren Werken des für gut befundenen Verfassers.

Dies funktioniert selbst dann, wenn die Anthologie keinem thematischen roten Faden folgt, sondern wüst zusammengestellt wird, was für den Herausgeber greifbar bzw. möglichst lizenzgünstig ist. Die zwischen 1984 und 1986 im Bastei-Verlag veröffentlichte Reihe der "Gespensterbücher" ist ein gutes bzw. trauriges Beispiel dieser Praxis. Immerhin fungierte mit Michael Görden ein Mann als Herausgeber, der aufgrund seiner Genrekenntnis auch in den Niederungen der Gebrauchsliteratur ein Händchen für das Lesenswerte besaß. Zwischen die üblichen, viel zu oft in solchen Sammlungen auftauchenden Verdächtigen mischen sich deshalb weniger bekannte aber interessante Autoren oder Altmeister mit noch frischer, nie oder nur selten gelesener Ware.

Eine seltsame aber illustre Gemeinschaft

So verbirgt sich hinter dem beliebigen Titel Nachtspuk und dem recht lieblosen Layout eine durchaus respektable Anthologie. Görden griff für diesen ersten Band vor allem auf klassische Storys des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts zurück. Sie stammen aus einer Ära, die als Glanzzeit der Gespenstergeschichte gilt. Bis dahin legte sie einen langen Weg zurück, wie Görden am Beispiel früher Vorläufer zeigt.

So erzählt Frederick Marryat (1792-1848) eine zur Entstehungszeit seiner Story - eigentlich ein Kapitel seines 1839 veröffentlichten Romans "The Phantom Ship" (dt. Das Gespensterschiff oder Der fliegende Holländer) - typische Geschichte von Schuld und Sühne bzw. Fluch und Verhängnis: Der Titelheld gerät an überirdische Wesen, die den verständlichen Wunsch, dem Verderben notfalls durch Gewalt zu entrinnen, gnadenlos bestrafen. Vom Kontakt mit der Geisterwelt ist abzuraten. Dabei spielt nicht nur die Unberechenbarkeit ihre Bewohner, sondern auch ihre "Gottlosigkeit" eine Rolle: Der Christenmensch hat den Umgang mit Kreaturen, die ein höllischer Schwefelhauch umweht, tunlichst zu meiden. Die Strafe folgt ansonsten stets auf dem Fuß und ist immer grausam.

Marryat spielt mit einem Aberglauben, der im noch jungen Zeitalter der Aufklärung keineswegs in Vergessenheit geraten war. Einen Schritt weiter kann Charles Dickens (1812-1870) gehen, der den Spuk als Schabernack inszeniert, der womöglich nur das Produkt einer allzu alkoholreichen Abendmahlzeit ist. Den daraus erwachsenden (Punsch-) Geist muss man nicht fürchten, sondern darf (und soll) sich über ihn amüsieren.

Die Zeiten ändern sich (fürchterlich)

Die genannte Aufklärung machte primär den Elfen, Kobolden, Trollen u. a. Naturgeistern den Garaus. Gleichzeitig stießen die Naturwissenschaft neue Tore zu Welten auf, deren (mögliche) Bewohner den traditionellen Geistern an Schrecken nicht nachstanden, wobei dieser Schrecken "modern" und deshalb gerade realistisch wirkte. Schon 1859 und damit relativ früh wusste Fitz-James O'Brien (1828-1862) daraus Kapital zu schlagen. Seine Schauermär wirkt erstaunlich frisch, denn er verzichtet auf jede Erklärung, sondern lässt Herkunft, Natur und Motiv des ebenso simpel wie wirkungsvoll beschriebenen Schreckens offen: Was der Mensch nicht weiß, kann weiterhin gefährlich sein.

Weniger um blanken Horror als um die Macht des Schicksals geht es Wilkie Collins (1824-1889) in einer aus heutiger Sicht sehr rührseligen Erzählung. Geister kommen hier nur als Schatten fataler und falscher Entscheidungen vor, die das Leben vergiften. Der Verfasser lässt die von Tragik förmlich triefenden Ereignisse in einem Happy-End gipfeln, dessen Dramatik sich vor allem den zeitgenössischen Lesern mitgeteilt haben dürfte; heutzutage ist das Publikum hartgesottener.

Noch stärker dem "wissenschaftlich" begründbaren Horror verpflichtet ist Howard Phillips Lovecraft (1890-1937), ein Autor des 20. Jahrhunderts, obwohl er auf eine Vergangenheit zurückgreift, für die er geschickt Fakten und Fiktion vermischt. Lovecraft geht dabei wie ein Historiker vor. Die scheinbare Sachlichkeit unterstreicht den Schrecken, der umso fassbarer wirkt.

Wenn das Hirn zum Gegner wird

Mit dem Aufkommen der (angewandten) Psychologie bot sich den Erfindern übernatürlicher Schrecken ein neues Feld. Das eigene Gehirn stellte sich plötzlich als potenzieller Verräter dar. Krankheit und nur scheinbar erfolgreich unterdrückte Triebe wurden zu Quellen eines ganz neuen Grauens. Clark Ashton Smith (1893-1961) schlägt dabei einen Bogen: Er belebt den Gedanken an eine buchstäblich belebte Natur. Aus den Sagengestalten der Vergangenheit wird ein zeitloser "Animus", der faktisch weder "gut" noch "böse" sondern fremd ist. Geraten Menschen in seinen Bann, finden sie übles Ende, weil sie dieser Kraft nicht gewachsen sind.

Stephen King (*1947) erzählt ganz klassisch von bösen Geistern, die noch eine Rechnung offenhaben. Ihr Handeln ist sinnlos, ihr Auftreten banal, doch der Schaden, den sie anrichten, sehr real. Wie für King typisch muss sich ein Jedermann etwas einfallen lassen, um sich seiner scheinbar übermächtigen Gegner zu entledigen. Ebenfalls King-üblich gelingt ihm das, obwohl angemerkt werden muss, dass der Autor bessere Geschichten als diese geschrieben hat: Die offenbar reibungslose Mutation vom gestressten Lehrer zum Dämonenbeschwörer kann nicht wirklich überzeugen.

Wieder einmal hintergründig und schleichend lässt dagegen John Ramsey Campbell (*1946) das Böse langsam und unmerklich die Gegenwart unterwandern. Durch die Wände des Originaltitels sickern Obsessionen und Phantome, die eingebildet oder echt sein können. Campbell legt sich nicht fest und schwenkt noch in den Schlusssätzen einmal um: Das ‚erklärte' Grauen ist keineswegs zur Ruhe gekommen; den Protagonisten dürfte weiterhin Böses drohen. Die Phantastik ist erwachsen geworden bzw. hat mit der Realität Schritt gehalten: "Ende gut, alles gut" ist eine Beschwichtigungsfantasie der Vergangenheit. Die moderne Gegenwart wird durch Unsicherheit auf allen Existenzebenen gekennzeichnet; ein Schrecken, der das gute, alte, mit Ketten rasselnde Bettlaken-Gespenst ins Reich der Nostalgie verbannt hat.

Nachtspuk - Unheimliche Geschichten

Michael Görden, Bastei-Lübbe

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