Christine

  • Bastei-Lübbe
  • Erschienen: Januar 1984
  • 8
Christine
Christine
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Michael Drewniok
95°1001

Phantastik-Couch Rezension vonFeb 2006

Detroit Horror Picture Show

Es ist Liebe auf den ersten Blick, als sich Arnie Cunningham, gerade 17 Jahre alt geworden, und Christine begegnen. Die Angebetete ist drei Jahre älter und besucht nicht die Highschool wie ihr Verehrer, doch nicht dies stellt sich der Romanze in den Weg, sondern (zunächst) die Tatsache, dass Christine ein Auto ist - ein feuerrot-weiß lackierter, haifischflossengezierter Plymouth Fury des Baujahres 1958 ...

In Libertyville, dem kleinen, trotz des pompösen Namens recht verschlafenen Städtchen irgendwo im US-Staat Maine gibt es im Sommer dieses Jahres 1978 wenig zu lachen für einen jungen amerikanischen Mann, der intelligent, aber keine Sportskanone und darüber hinaus nicht nur von schmächtiger Statur ist, sondern von heftiger Akne gepeinigt wird. Drastisch ausgedrückt: Arnie ist der Prügelknabe seiner Highschool, und nur die Freundschaft zum baumlangen Football-Spieler Dennis Guilder verhindert, dass die Jugend von Libertyville den Außenseiter endgültig ausradiert.

Niemand weiß, dass Arnie hinter einer Maske des Gleichmuts sehr wohl seinen Groll nährt und Rachepläne schmiedet. Trotzdem wären diese sicherlich Fantasie geblieben, wäre nicht Christine auf der Bildfläche erschienen und hätte sich weniger als Auto, sondern als Metall gewordene und von einem bösen Geist beseelte Todesmaschine erwiesen, die sich scheinbar als Instrument der ersehnten Vergeltung anbietet, die Arnie an gewissen Bürgern von Libertyville üben will.

Die Reihe ist lang, doch Christine willig. Entsetzt aber hilflos muss Arnies Freund Dennis mit ansehen, wie der dämonische Wagen immer mehr Macht über seinen Meister gewinnt. Dennis findet heraus, dass Hass seit jeher der Treibstoff ist, nach dem Christine giert. Eine unheimliche Metamorphose setzt ein, die aus dem verrotteten Autowrack eine strahlende, doch tödliche Blechschönheit erstehen lässt. Auch Arnie gewinnt an Selbstbewusstsein und Attraktivität, doch mit seinen Pickeln verlässt ihn Stück für Stück sein liebenswürdiges Wesen. Statt dessen mutiert er zum verlängerten Arm Christines und sorgt am Tage für den Teufelswagen, der in der Nacht jene jagt und tötet, die den Zorn ihres derzeitigen Chauffeurs erregen.

Eine schwere Sportverletzung hindert Dennis daran Arnie beizustehen, so dass dieser immer tiefer in den Bann Christines gerät. Während die Zahl nächtens niedergefahrener Zeitgenossen ständig steigt und die Polizei misstrauisch zu werden beginnt, eskaliert die Situation schließlich, als Arnie sich neu verliebt - in eine Menschenfrau dieses Mal. Leigh Cabot ist die amerikanischen Highschool-Queen schlechthin, doch Christine duldet keine Rivalin. Das Dämonenauto hat inzwischen einen Grad des Eigenlebens erreicht, das es ihm ermöglicht, den Meister und sein Geschöpf die Rollen tauschen zu lassen. Als die verstörte Leigh ausgerechnet in die Arme Dennis Guilders flüchtet, ist der Zeitpunkt der großen Schlussabrechnung gekommen. Christine bläst offen zum großen Halali auf ihre echten und eingebildeten Feinde und erweist sich wie jeder böse Geist zunächst als unzerstörbar - und schlau!

Der Mann mit dem .58er Magnum

Mehr als zwei Jahrzehnte ist es nun her, dass Stephen King die Phantastik-Fans dieser Welt mit der überraschenden Tatsache konfrontierte, dass der Teufel nicht zwangsläufig in einem Zauberspiegel, auf einem Geisterschiff oder in einem Spukschloss hausen muss, sondern ganz zeitgemäß in ein Auto fahren kann. Siehe da: Es funktioniert prächtig und belegt gleichzeitig, dass King als Schriftsteller wesentlich geistreicher ist (oder war), als ihm dies seine zahlreichen Kritiker zugestehen mögen.

Das Automobil ist nicht nur ein integraler Bestandteil des ”American Way of Life”, sondern genießt darüber hinaus geradezu hymnische Verehrung als Objekt der Selbstverwirklichung und -darstellung: Zeig' mir was du fährst, und ich sag' dir, wer du bist. Wo derjenige von seinen Mitmenschen mit Neid oder Anerkennung betrachtet wird, der buchstäblich den Längsten hat, muss zwangsläufig eines kuriosen Seitenzweiges der Technik-Geschichte mit besonderer Liebe gedacht werden. Das Vierteljahrhundert nach dem II. Weltkrieg bescherte den USA (neben dem Kalten Krieg) einen wirtschaftlichen Aufschwung, wie es ihn nie zuvor gegeben hatte. Die übergroßen, Sprit fressenden, barock überladenen Automobile (oder besser ”Straßenkreuzer”) dieser Jahre spiegeln den Glanz einer Epoche wider, in der es in Amerika nur den Himmel als Grenze zu geben schien - und selbst diese bald energisch in Angriff genommen wurde.

Der 1958er Plymouth Fury ist für King der Höhepunkt dieses Rausches - ein technisch selbst für seine Epoche bestürzend simples, monströs übermotorisiertes, Kraftstoff vergeudendes, ungefilterte Abgase ausstoßendes, trotz seiner Größe kaum vier Passagieren Platz bietendes Gefährt, dessen Anblick nichtsdestotrotz noch heute zuverlässig die wehmütige Erinnerung an eine versunkene Ära weckt, als man sich nur vor den gottlosen Kommunisten in Acht nehmen musste, denen man aber anders als den Gespenstern einer noch unbekannten Zukunft - Umweltzerstörung, Dauerrezession, Terrorismus - notfalls ordentlich in den Hintern treten konnte.

Gefährlich lebt, wer den Wurm zu oft tritt ...

Nun diesen Traum oder die wehmütige Erinnerung daran zu nehmen und in einen echten Albtraum zu verwandeln, ist wie gesagt ein gelungener Einfall. Es ist aber nicht der einzige, mit dem Stephen King in ”Christine” aufwartet. Analysiert man, wie der Autor sein Garn spinnt, wird rasch deutlich, dass er dabei noch ganz andere heilige Kühe schlachtet.

Die amerikanische Kleinstadt als Mikrokosmos oder Hort aller Tugenden, die dieses Land einst groß gemacht haben, ist ein weiterer uralter Topos der US-Populär-Kultur. Hier, wo die Leute einander noch persönlich kennen, ist man freundlich und nett zueinander, kennt anders als in der sündhaften Stadt die kleinen, aber wirklich wichtigen Dinge des Lebens und weiß ihren Wert zu schätzen - so lassen sich die wichtigsten Klischees kurz zusammenfassen. Dass dem natürlich mitnichten so ist, haben vor Stephen King schon andere Autoren thematisiert. Trotzdem existiert die Norman Rockwell-Idylle als stille Sehnsucht besonders in den Köpfen derer weiter, die sich von den Anforderungen, welche die Gegenwart an sie stellt, überfordert fühlen.

King, der Chronist des bürgerlichen Mittelstandes, kennt die Regeln dieser harmonisch-verlogenen Traumwelt genau und spielt auf ihnen wie Musikvirtuose. Sein Libertyville (schon der Name ist reine Provokation) ist kein Goldfischteich, sondern ein Haifischbecken, dessen Bewohner auch vor Kannibalismus nicht zurückschrecken. In Libertyville leben keine Waltons; es ist ein gesichts- und kulturloser Flecken irgendwo dort auf dem Land, wo es ganz besonders platt ist; bewohnt wird er von bestenfalls gleichgültigen, aber meist bornierten, selbstsüchtigen, gemeinen Zeitgenossen, die in der Regel nicht einmal die mit Zähnen und Klauen an sich gerissenen Stücke vom Kuchen zu genießen wissen. Nur die Familie stellt manchmal eine kleine Oase in der grausamen Wüste dar, die Alltag heißt, doch man verlasse sich besser nicht zu sehr darauf, denn auch hier kann es krachen, und wenn dies geschieht, dann ziehen selbst böse Geister lieber den Kopf ein!

School's out for-ever!

Ein besonderes Kapitel widmet King jener Vorhölle auf Erden, die der amerikanischen Jugend vorbehalten bleibt: der Highschool mit ihrem komplexen Kastensystem, in dem es für jeden Schüler und jede Schülerin einen festen Platz gibt - und Gnade Gott dem armen Teufel, den es in die Unterschicht der Unberührbaren jenseits der Footballspieler, Cheerleader-Girls oder Reichen Söhne/Töchter verschlägt! Die Unbarmherzigkeit, mit der die Unglücklichen malträtiert werden, die es nicht geschafft haben, irgendwo 'oben' ihre Nische zu finden, ist der explosive Nährboden, auf dem jene hierzulande (noch) schwer zu verstehenden jugendlichen Amokläufer gedeihen, die bis an die Zähne bewaffnet ihre Schule heimsuchen, um zu vernichten, was sie nicht im guten amerikanischen Wettstreit zum optimal für den Lebenskampf gerüsteten Bürger der Zukunft heranwachsen, sondern an Leib und Seele zerbrechen ließ. Arnie Cunninghams wahnwitzige Wutanfälle - schon lange bevor Christine ihn beherrscht - verraten einen Menschen am Rande des Abgrunds, nachdem ihn die ganze Welt ein wenig zu lange getreten hat. Wenn King ihn beklemmend authentisch Rache schwören lässt für das erlittene Unrecht, verschmilzt das fiktive Libertyville von 1978 mit dem realen Littleton, Colorado, von 1999 - und nicht nur damit!

Die Meisterschaft, mit der King seine Version von Thorntons Wilders "Kleiner Stadt" präsentiert, wurde von seinem Publikum offenbar viel deutlicher und früher zur Kenntnis genommen und anerkannt als von der Kritik. Viel zu lang sei die Mär vom mordenden Mobil geraten, und lächerlich dazu, wurde moniert, was dem Erfolg dieses Buches jedoch keinerlei Abbruch tat. Knapp zwei Jahrzehnte später weiß man besser, was man an ”Christine” hat: einen modernen Klassiker der Phantastik, verfasst von einem wirklich guten Erzähler auf dem Höhepunkt seiner schriftstellerischen Fähigkeiten. Die vielen Seiten dieses frühen Kings lesen sich jederzeit mühelos, obwohl (scheinbar) wenig passiert. Doch der wahre Horror liegt eben nicht in Christines spektakulären Attacken, sondern in der bedrückenden Atmosphäre einer stetig wachsenden Bedrohung, die sich Libertyville wie eine Gewitterfront nähert und genauso wenig aufzuhalten ist, zumal sich niemand auch nur darum bemüht. Dieses Bild ist für King typisch; er hat sich seiner seither noch oft bedient, und es hat eigentlich sogar in seinen weniger gelungenen Werken nie seine Wirkung verfehlt.

Christine

Stephen King, Bastei-Lübbe

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