Die Mauer

  • Klett-Cotta
  • Erschienen: Januar 2019
  • 2
Die Mauer
Die Mauer
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Michael Drewniok
60°1001

Phantastik-Couch Rezension vonMai 2019

Hinter der Mauer ebenso sicher wie gefangen

In dieser nahen Zukunft hat der Mensch den Raubbau an seinem Heimatplaneten so weit getrieben, dass es tatsächlich zu den von lästigen Experten angekündigten Klimaveränderungen kam. Ganze Kontinente wie Afrika trocknen aus, die Menschen verhungern. Eine gewaltige Flüchtlingskarawane dringt unaufhaltsam nach Europa vor, wo sowohl die ökonomischen als auch die politischen Strukturen zerbrachen.

England hat sich unter Nutzung seiner Insellage buchstäblich abgeschottet. Die 10000 km lange Küste wird komplett durch eine hohe Mauer vor den „Anderen“ geschützt, die  über die Nordsee nach England flüchten wollen. Wer sich nicht abwehren lässt, wird kompromisslos umgebracht. Da dies bekannt ist, versuchen die „Anderen“ sich mit Waffengewalt den Weg ins Landesinnere zu bahnen. Jede junge Frau und jeder junge Mann ist verpflichtet, zwei Jahre auf der Mauer zu stehen. Dieser Wehrdienst ist gefürchtet, denn es wird buchstäblich scharf geschossen. Sollten „Andere“ durchbrechen, werden die dafür verantwortlichen Wächter selbst auf dem Meer ausgesetzt.

Für den Rekruten Joseph Kavanagh brechen harte Zeiten an, doch wie die meisten Neulinge lebt er sich rasch ein, schließt Freundschaften und leistet gute Arbeit auf der Mauer. In der Kameradin Hifa findet er sogar eine Gefährtin. Ein gesellschaftlicher Aufstieg und damit das Ende staatsbürgerlicher Einschränkungen scheinen möglich.

Doch es gärt in England. Die Regierung ist eher eine Diktatur. Viele Bürger können den ‚Krieg‘ gegen die verzweifelten „Anderen“ nicht ertragen. Eine Verschwörung soll ihnen den Weg ins Land ebnen. Der Durchbruch gelingt dort, wo Joseph und Hifa Wache schieben. Kurz darauf schaukeln sie mit einigen Leidensgefährten auf hoher See: Per Gerichtsurteil sind sie für ihr ‚Versagen‘ selbst zu „Anderen“ geworden …

Die Gegenwart - konsequent weitergedacht

Zwar ist der griffige Slogan, den wir auf der Rückseite des Covers finden, wieder einmal vor allem der Werbung geschuldet: „Migration, Klimawandel, Brexit - der Roman der Stunde“ dröhnt es dort. Was der Brexit mit dem Handlungsinhalt zu tun haben könnte, bleibt rätselhaft; es sei denn, man geht davon aus, dass die Briten - wenn sie es denn schaffen sollten, sich irgendwann von Europa zu lösen - darüber nachdenken, sich mit einer Insel-Mauer zu umgeben, um weitere Attacken aus Brüssel abzuwehren.

Auch Migration und Klimawandel spielen kaum Rollen. Was genau vorgeht auf dieser zukünftigen Erde, wird vage angedeutet. Es ist auch nicht von Bedeutung. Autor John Lanchester interessiert sich weniger für die ‚Verlierer‘ des Zusammenbruchs; dieser Begriff wird hier in Anführungsstriche gesetzt, weil man die Briten, die hinter ihrer Mauer vor Hunger, Kälte und permanenter Existenznot verschont bleiben, keineswegs als Gewinner bezeichnen kann.

Um diese Briten geht es dem Verfasser. Lanchester stellt die Frage, wie weit man gehen will und kann, wenn es darum geht, nicht einfach eine Krise zu überstehen, sondern sich im Dauerelend einen gewissen Lebensstandard zu erhalten, den man nicht teilen möchte. Schon heute fordern Hardliner ein unbarmherziges Vorgehen gegen „Wirtschaftsflüchtlinge“, die zur (un-) heimlichen Erleichterung der west- und nordeuropäischen Staaten bisher nur über das Mittelmeer kommen und ihren Teil am Kuchen fordern, den (nicht nur) die Reichen & Mächtigen lieber für sich behalten wollen.

Der Preis des Überlebens

Üblicherweise gedenken jene, die solche Forderungen stellen, die praktische Ausführung anderen zu überlassen, da sie sich selbst die Hände nicht schmutzig machen möchten; verständlicherweise, denn wie Lanchester deutlich macht, würde man nicht von „Schmutz“, sondern von „Blut“ sprechen. Käme es hart auf hart, stünde diese Entscheidung an: Wir teilen und leiden gemeinsam, oder es fallen Schüsse.

In Lanchesters England hat man sich für die zweite Variante entschieden. Über den dadurch gesicherten Alltag können sich die Bürger nicht wirklich freuen. Sie kennen sehr wohl den Preis, der dafür zu zahlen ist, auch wenn dies auch und gerade von Staatswegen verdrängt wird. Der Ausnahmezustand hat nie ein Ende gefunden, weshalb eine in sich ruhende und von Wahlen freie Regierung die Menschenrechte nicht nur für die „Anderen“ negiert, sondern auch die eigenen Bürger gängelt, bespitzelt und einschüchtert.

Dies geschieht „zum Wohle der Allgemeinheit“ - eine Aussage, die seit jeher mit Lügen aller Art aufgeladen wird. In der Beschreibung der ‚wissenden Ignoranz‘, die den Alltag der Briten prägt, entfaltet Lanchester eine Meisterschaft, die durch eine betont einfache Sprache unterstrichen wird: Jenseits aller Parolen (und voller Mägen) bestimmen Angst und ein kollektiv schlechtes Gewissen die zukünftige Gegenwart.

Vom Regen in die Traufe

Gleichzeitig wird von der Regierung systematisch eine Generation herangezogen, der die Repressionen in Fleisch und Blut übergegangen sind. Joseph Kavanagh, die Hauptfigur, tritt seinen Dienst auf der Mauer vor allem deshalb ungern ab, weil dieser langweilig und gefährlich ist. Über moralische Fragen zerbricht er sich nicht den Kopf, sondern feuert überzeugt auf die „Anderen“, wenn sie über die Mauer drängen, oder lässt sich gern von legal versklavten Flüchtlingen bedienen. Das hilft ihm nicht, als er in die Mühlen einer Regierung gerät, die vor allem ihre Privilegien hütet und mit brachialen Methoden von strukturelle Schwächen ablenkt. So muss auch der pflichtbewusste Kavanagh hinaus aufs Meer.

Damit verliert die Handlung ihren titelgebenden Fokus. Das Geschehen zerfasert bzw. wird zu einem recht beliebigen Survival-Drama. Die Welt der „Anderen“ ist einerseits primitiv und wird andererseits von offener Gewalt bestimmt: Das haben wir in unzähligen Romanen, Filmen und TV-Serien gelesen bzw. gesehen - oft besser, als Lanchester es zu beschreiben vermag. Nun nimmt die Handlung endlich Tempo auf und bietet jene Spannungselemente, die ihr fehlten, als sie noch auf und hinter der Mauer spielte. Doch schon dort gab es Plausibilitätsprobleme: Wenn Lanchester eine Regierung im Ungeiste George Orwells („1984“) darzustellen versucht, wirkt diese vergleichsweise naiv und ihre Allmacht behauptet.

Misslungen ist das ‚offene‘ Ende, das vermutlich literarisch = symbolträchtig bzw. vieldeutig sein soll, aber zumindest in der Realität verankerte Leser enttäuscht. Lanchester scheint sich vor einem konsequenten Ende zu drücken. Was er stattdessen schildert, ist ähnlich verquast wie das Finale allzu lang laufender Mystery-Serien. Deshalb bleibt „Die Mauer“ letztlich unbefriedigend. Die Geschichte verliert spätestens in der zweiten Hälfte ihre Dichte und damit an Intensität. Sollte Lanchester tatsächlich vor einer möglichen Zukunft warnen wollen, gerinnt ihm dies zu einem literarischen Planspiel.

Fazit:

Zunächst intensiv schildert der Autor die nur scheinbar sichere Existenz, die ein zukünftiges England verbarrikadiert hinter einer gewaltigen Mauer fristet. Verzweifelte Flüchtlinge von „draußen“ hält man gewaltsam fern, die Bürger leben in einer Quasi-Diktatur. Was dies aus den Menschen macht, stellt der Verfasser glaubhaft dar. Als die Hauptfiguren die Mauer hinter sich lassen, beginnt die Handlung zu zerfasern und beliebig zu werden, was ihre Wirkung nach und nach schwinden lässt.

Die Mauer

John Lanchester, Klett-Cotta

Die Mauer

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