Das Jahr des Werwolfs

  • Bastei-Lübbe
  • Erschienen: Januar 1988
  • 1
Das Jahr des Werwolfs
Das Jahr des Werwolfs
Wertung wird geladen
Michael Drewniok
75°1001

Phantastik-Couch Rezension vonOkt 2019

Kraftvoll & böse gegen schwach & klug

Tarker’s Mills ist eine Kleinstadt im Hinterland des US-Staates Maine. Die Wälder sind nahe und dicht, sie stellen eine ideale Deckung für das Böse dar, das erstmals im winterkalten Januar zuschlägt. Wenn der Vollmond am Himmel steht, werden in den nächsten Monaten weitere Menschen grausam sterben. In Stücke gerissen und zum Teil gefressen findet man sie am nächsten Morgen - umgeben von riesigen Klauenspuren, die beunruhigend menschenähnlich wirken. Die Polizei fahndet erfolglos nach dem Mörder, zumal Stadtpolizist (Constable) Neary nichts auf die Hirngespinste abergläubischer Zeitgenossen gibt, die auf einen Werwolf als Täter tippen.

Dass genau dies zutrifft, weiß allein der elfjährige Marty Coslaw, der die Attacke der Bestie überlebt hat, weil er gerade mit Feuerwerkskörpern hantierte und den Angreifer damit eindeckten konnte. Der Kreatur fehlt seitdem ein Auge, was aber ihren Tatendrang nicht bremst.

Marty ist querschnittsgelähmt und sitzt im Rollstuhl, was ihn einerseits verwundbar macht, während er andererseits daran gewöhnt ist allein zu sein und intensiv nachzudenken. Es gelingt ihm den Werwolf zu entlarven, der ein unauffälliges Menschenleben führt. Marty appelliert zunächst anonym an den Mann, der jedoch seine Nächte als Werwolf genießt und nicht missen will. Also stellt ihm Marty eine Falle - und bietet sich selbst als Köder an …

Im Laufe eines Jahres

Kalendergeschichten zählen zu den Randerscheinungen vor allem der modernen Literatur. Sie folgen dem chronologischen Ablauf des Jahres und zählen in der Regel zwölf Kapitel, die den einzelnen Monaten entsprechen. Jedes Kalenderblatt zeigt (jedenfalls in unserem Fall) vorn eine aufwändige Zeichnung, während auf der Rückseite eine Geschichte erzählt wird, deren Handlung eng mit den Jahreszeiten verzahnt ist.

Was normalerweise ein Nischenprodukt darstellt, weckt Interesse, wenn Zeichner UND Autor prominent sind. („Fähig“ ist nicht so wichtig.) 1983 kamen zwei Größen zusammen, die ihre Handwerke verstanden. Stephen King gehörte bereits zu den bekanntesten Autoren der Welt, und Berni Wrightson (1948-2017) stand ihm zumindest in der Welt der Comics nicht nach. Beide liebten den klaren, elementaren Horror, ohne ihm seine Hintergründigkeit zu nehmen. Sie nannten den Schrecken beim Wort bzw. stellten ihn zeichnerisch dar, wobei Wrightson es meisterlich verstand, die Welt der von ihm in seinen Jugendjahren geliebten „EC“-Comics auferstehen zu lassen.

Diese genießen einen legendären Ruf. Fans liebten sie, während Tugendbolde sie „jugendgefährdend“ nannten, die Zensur auf ihre Seite bringen und dem EC-Horror 1956 den Garaus machen konnten. Zu deutlich bannten die EC-Zeichner das Grauen auf Comic-Papier, und gratis gab’s zynische Seitenhiebe auf das Establishment dazu, das die Jugend einlullen und eine Realität vorgaukeln wollte, in der Anpassung und Wohlverhalten Ruhe, Ordnung und Glück garantierten.

Die unerfreuliche Allgegenwart des Schreckens

Auch der 1947 geborene Stephen King zählt zu den Verehrern der EC-Comics. Sie deshalb zusammen mit Wrightson quasi wiederaufleben zu lassen, fand deshalb sein offenes Ohr. Schon vor „Das Jahr des Werwolfs“ waren King und Wrightson an der Verfilmung der EC-Hommage „Creepshow“; 1982; dt. „Creepshow - Die unheimlich verrückte Geisterstunde“) beteiligt. King experimentierte überdies gern mit literarischen Formen, verfasste Fortsetzungsromane, war ein Pionier der Online-Veröffentlichung und schrieb Drehbücher.

Nichtsdestotrotz kam der geplante Kalender nie zustande. King scheiterte daran, seine Geschichte in zwölf Vignetten zu erzählen. „Das Jahr des Werwolfs“ ist ein Kurzroman, war aber trotzdem zu lang für zwölf Kalenderblätter. So wurde umdisponiert, und 1983 erschien zunächst in kleiner Auflage der hochpreisige Prachtband „Circle of the Werewolf“. Zwei Jahre später folgte eine kostengünstige Neuausgabe. Da dies eine Zeit war, in der ALLES gelesen wurde, über dem der Autorenname „Stephen King“ stand, wurde auch „Das Jahr des Werwolfs“ ein Erfolg. Zudem weist diese Geschichte alles auf, was King als Schriftsteller auszeichnet: Er entfesselt nicht stumpf blutiges Grauen, sondern sorgt für dessen Erdung in einer scheinbar ‚heilen‘ Welt, was den Schrecken präzisiert: Er kann uns alle treffen, selbst wenn wir ihn nicht heraufbeschworen haben!

King verkörpert diesen Schrecken als Werwolf. Dieser benötigt zu seiner Verwandlung das Licht des vollen Mondes, der etwa einmal im Monat am Himmel steht. Damit konnte King die ursprüngliche Kalender-Idee unterstreichen. Außerdem ist der Werwolf eine widersprüchliche Gestalt - einerseits wild und böse, andererseits ein Opfer seiner Triebe, deren Folgen er in Menschengestalt bitter bereut. King fügt dem eine ‚moderne‘ Wendung an: Bevor er zum Werwolf wurde, fristete er (dessen Identität hier natürlich verschwiegen wird) ein freudloses, frustrierendes Dasein, weshalb er sein Schicksal nicht nur akzeptiert, sondern die Freizeit mörderischer Vollmondnächte offen genießt.

Das Böse kommt über eine (ohnehin nur bedingt) heile Welt

Tarker’s Mills ist DIE typische US-Kleinstadt. Einfache Menschen arbeiten hart und halten zusammen. Die Wertewelt ist simpel, handfest und ‚richtig‘. Im Mittelpunkt steht die Familie. Ansonsten achtet man die Privatsphäre des Nachbarn und ist vorsichtig = konservativ, da Experimente u. a. Einflüsse der Außenwelt diesem Mikrokosmos Schaden zufügen können.

Stephen King hat diese Idylle seit jeher einerseits bekräftigt, während er andererseits auf ihre Schattenseiten hinweist. So geht es hinter den Kulissen von Tarker’s Mill ebenso brutal zu wie in der sündhaften Großstadt: Häusliche Gewalt, Ehebruch, ignorante Dummheit - hier perfekt verkörpert durch Constable Neary -, Bigotterie: Die Kürze der Form zwingt King, sich auf exemplarische Bosheiten zu beschränken. Es reicht aus eine Gemeinde zu beschreiben, die auch ohne Werwolf mehr als genug düstere Geheimnisse hütet.

Erst spät führt King den jungen Marty Coslaw ein. Er hat sich mit seinem Leben im Rollstuhl arrangiert und leidet eher unter seiner Familie, der dies nicht gelingt, weshalb Marty die ungeschickten Bemühungen der Eltern, seine Behinderung quasi zu negieren, zu schaffen machen, zumal er die damit verbundene Enttäuschung über einen ‚unvollkommenen‘ Sohn klar erkennt.

Nicht die Wölfe, aber auch nicht die Schafe siegen

Ausgerechnet der (nach den Maßstäben von Tarker’s Mills) unkonventionelle und deshalb ‚verdächtige‘ Onkel Al geht ungekünstelt mit Marty um. Dieser Charakterzug verbindet die beiden, und diese Offenheit rettet nicht nur Marty, sondern auch Tarker’s Mill: Dies ist neben dem Tod der Bestie eine finale Erkenntnis, die King eindeutig wichtig ist.

Ansonsten mündet jeder Versuch der ‚erwachsenen‘ = scheinbar jeder Krise gewachsenen Bürger von Tarker’s Mills den Werwolf zu stellen in einer tödlichen Katastrophe. Sie können sich nicht von jenen tief eingeschliffenen Konventionen lösen, die ihren Alltag prägen. Doch man muss umdenken, um einer neuartigen Gefahr zu trotzen. Nur Marty in seinem Rollstuhl ist dazu in der Lage, während zwischen Januar und November starke, aber geistig verkrustete Männer dem Werwolf nicht einmal nahekommen.

Obwohl King sich kurzfassen muss, ist „Das Jahr des Werwolfs“ eindeutig mehr als die Ergänzung einer Serie hübsch-hässlicher Schwarzweiß- und Farbzeichnungen. Was der Autor zu sagen hat, kommt zum Tragen. Die Bedrohung baut sich langsam, aber deutlich auf, die Auflösung ist plausibel. Ob dies auch auf die finale Begegnung zwischen Marty und dem Werwolf einschließt, müssen die Leser entscheiden; selbst Stephen King, der offen den Missbrauch der US-allgegenwärtigen Feuerwaffen anprangert, kann sich kein Ende ohne Schuss denken, obwohl er damit andererseits das typische Ende praktisch jeder Werwolf-Geschichte zitiert.

Von der „Nacht des Werwolfs“ zum „Werwolf von Tarker Mills“

Bereits in den 1980er Jahren arbeitete jener Bereich der Hollywood-Maschine, die mit Stephen-King-Stoffen betrieben wurde, auf Hochtouren. Obwohl King ein produktiver Autor war (und ist), riss man ihm auch aus den Schreibhänden, was besser unverfilmt geblieben wäre. Außerdem patzte Hollywood gern bei der Umsetzung, d. h. arbeitete kostengünstig, wo ein höheres Budget notwendig gewesen wäre, oder ‚entschärfte‘ King dort, wo seine kritische Weltsicht nicht mit den Ansichten des Zielpublikums - wie Hollywood sie definierte - konformging.

Ursprünglich sollte „Circle of the Werewolf“ von Don Coscarelli inszeniert werden, den King als Regisseur des ebenso mysteriösen wie spannenden Horrorfilms „Phantasm“ (1979; dt. „Das Böse“) schätzte, weshalb er am Drehbuch mitarbeitete. Doch als Coscarelli mit dem Fantasy-Trash „The Beastmaster“ (1982; dt. „Beastmaster - Der Befreier“) Schiffbruch an den Kinokassen erlitt, wechselte ihn Produzent Dino de Laurentiis gegen den eindeutig weniger charismatischen, aber buchstäblich berechenbaren Daniel Attias ein.

King nahm sich die Zeit und verfasst selbst ein neues Drehbuch, doch die Umsetzung fand kein begeistertes Publikum. Dabei war de Laurentiis nicht knauserig, und die Besetzung besaß zwar kein Star-Potenzial, setzte sich aber aus fähigen Schauspielern wie Gary Busey - damals noch nicht zur ‚Ikone‘ des unterirdischen Trash-Heulers herabgesunken - oder Terry O’Quinn zusammen; den jungen Marty spielte der begabte Corey Haim (1971-2010). Aus heutiger Sicht wirkt „Silver Bullet“, wie man den 1985 veröffentlichten Film in den USA betitelte, durchaus ansehnlich: ein zwar einfallsarm erzähltes, aber solides Horrorgarn.

Anmerkung: In Deutschland erschien das Gemeinschaftswerk von King & Wrightson erstmals 1983. Die Neuausgaben tragen ab 1991 den Titel „Der Werwolf von Tarker Mills“: Hier wird dem Ursprungstext das von King verfasste Drehbuch zum Film beigefügt.

Fazit:

Die Kombination aus erzählter und gezeichneter Geschichte gelingt, weil zwei Meister ihrer Fächer zusammenarbeiten. Trotz der Kürze halten sich Spannung und Atmosphäre die Waage, zumal die Handlung eine knappe, aber zufriedenstellende Auflösung erfährt: „Das Jahr des Werwolfs“ mag nicht zu Stephen Kings Hauptwerken gehören, stellt aber ein gelungenes Experiment dar.

Das Jahr des Werwolfs

Stephen King, Bastei-Lübbe

Das Jahr des Werwolfs

Ähnliche Bücher:

Deine Meinung zu »Das Jahr des Werwolfs«

Wir freuen uns auf Deine Meinungen. Ein fairer und respektvoller Umgang sollte selbstverständlich sein. Bitte Spoiler zum Inhalt vermeiden oder zumindest als solche deutlich in Deinem Kommentar kennzeichnen. Vielen Dank!

Letzte Kommentare:
Loading
Loading
Letzte Kommentare:
Loading
Loading

Sci-Fi & Mystery
(MUSIC.FOR.BOOKS)

Du hast das Buch. Wir haben den Soundtrack. Jetzt kannst Du beim Lesen noch mehr eintauchen in die Geschichte. Thematisch abgestimmte Kompositionen bieten Dir die passende Klangkulisse für noch mehr Atmosphäre auf jeder Seite.

Sci-Fi & Mystery