Der Tod aus dem Meer

  • Apex
  • Erschienen: August 2019
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Der Tod aus dem Meer
Der Tod aus dem Meer
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Michael Drewniok
65°1001

Phantastik-Couch Rezension vonDez 2019

Kleine Ursachen mit schrecklichen Wirkungen

15 Geschichten, in denen der Verfasser trügerischen Alltag in nackten Horror umschlagen lässt:

- Der Tod aus dem Meer (My Name Is Death/The Terror on Tobit): Dass es auf einer küstennahen Insel spuken soll, hält zwei abenteuerlustige Frauen erst recht nicht von einem nächtlichen (und letzten) Besuch ab.

- Kitty Fischerin (Kitty Fisher): Kate hasst ihre kleine, lästige Schwester, und als sich eine günstige Gelegenheit ergibt, lässt sie bösen Gedanken Taten folgen.

- Das Brandmal (King of the Castle): Harry ist stark, aber langsam im Kopf, weshalb es dauert, bis er sich entschieden hat, wie er es seinem Peiniger heimzahlen wird.

- Besuch aus einer anderen Welt (Parlez Moi d'Amour): Der Mord an einer jungen Frau wiederholt sich alljährlich als grässliche ‚Aufzeichnung‘ aus dem Jenseits.

- Wer ist deine Freundin? (Who's Your Lady Friend?): Bert zeigt Ex-Gattin Madge das Grab des tragisch verstorbenen Söhnleins, aber es gibt einen schaurigen Grund dafür, dass sie es nicht erkennt.

- Der Finger der Furcht (The Finger of Fear): Miss Cornelias Geiz ist legendär; defekte Teile gibt sie stets separat zur Reparatur, was Folgen hat, als sie den Verstand verliert und der kleine Peter Zahnweh bekommt.

- Die Unnahbare (Hard to Get): Nach dem Krieg lassen sie sich ihren Sieg buchstäblich munden, weshalb die menschliche Erdbevölkerung permanent abnimmt.

- So bleich, so kalt, so tot („So Pale, So Cold, So Fair“): In Athen lässt sich alles zu Geld machen, doch manchen Handel überlebt der Verkäufer nicht.

- Das Gottesgeschenk (The Godsend): Sie erscheint im goldrichtigen Moment, um auf das Kleinkind aufzupassen, weshalb die gestressten Eltern die Herkunft des Babysitters nicht so gründlich wie erforderlich überprüfen.

- Bello (Rover): Er ersetzte seiner blinden Gattin Zeit seines Lebens die Augen, und auf die will sie nach seinem Tod nicht verzichten.

- Das Kinderfest (Circle of Children): Ein gewaltiges Freudenfeuer und der Auftritt einer sehr überzeugenden Hexe: Was könnte bei diesem Kinderfest schon schiefgehen?

- Lots Weib (Lot’s Wife): Sie machte ihrem Ehemann das Leben zur Hölle, weshalb seine Rache teuflisch ausfällt.

- Gideon (Gideon): Die betrogene Gattin ist Notärztin und wartet geduldig, bis ein Unfall ihr die Nebenbuhlerin ausliefert.

- Eine faszinierende Schönheit (A Hunting Beauty): Als selbst der Mord an der Rivalin ihr den Geliebten nicht zurückbringt, zieht die erzürnte Jacqueline die Terror-Schraube ein wenig zu fest an.

- Der Gott der Zuflucht (Lords of the Refugee): Der Missionar legt auf einer Pazifik-Insel zu viel Pflichtbewusstsein an den Tag und übersieht dabei, wie schrecklich abgelegen dieser Ort ist.

Die Lust am elegant servierten Schrecken

Die „conte cruel“ oder „Schauergeschichte“ bezeichnet eigentlich ein Literaturgenre des 19. Jahrhunderts. Formal und inhaltlich wiegt der Verfasser seine Leser durch die Schilderung scheinbarer Alltäglich- und Nebensächlichkeiten in trügerischem Frieden. Naht das Finale, geschieht plötzlich Schreckliches, das gern plakativ, d. h. blutig und grausig ausfallen darf. Wenn dies gelingt und der Autor seinem Publikum einen (unterhaltsamen) Schrecken einjagen konnte, hat er das angestrebte Ziel erreicht, wobei Zurückhaltung oder die Einhaltung des sog. „guten Geschmacks“ ausgeklammert bleiben dürfen. Das Grauen konterkariert der Verfasser durch (schwarzen) Humor, was seinen Lesern ein Ventil bietet.

Da der Schock-Effekt zu jeder Zeit sein Publikum fand (und findet), starb die Schauergeschichte nie aus. Sie wandelte sich und passte sich geänderten Zeiten bzw. Regeln an, was erwartungsgemäß vor allem bedeutete, dass der Schock an Intensität und Härte zunahm. Das finale ironische (oder zynische) Element blieb  erhalten: Der Mensch lacht gern, wenn es Zeitgenossen einfallsreich = unterhaltsam erwischt.

Zu den modernen Meistern der Schauergeschichte gehörten Robert Bloch (1917-1994), Roald Dahl (1916-1990) - und Charles Birkin (1907-1986). Während Bloch und Dahl auch hierzulande durch bitterböse Storys bekannt wurden, blieb Birkin, der ihnen durchaus gewachsen war, fast unbekannt. Nur zwei schmale Bände mit Erzählungen erschienen Anfang der 1970er Jahre (als „Die Finger der Furcht“ bzw. „So bleich, so kalt, so tot“, beide im Heyne-Verlag). Diese (hier nunmehr gekoppelten) Sammlungen sind immerhin repräsentativ und verdeutlichen, wieso Birkin in Großbritannien als Klassiker gilt, weshalb seine Werke präsent blieben.

Der Alltag als Brutstätte des Todes

Grausame Überraschungen sind im Alltag jederzeit möglich. Birkin verwurzelt seine Geschichten gern in der Welt der (englischen) Mittelklasse, spart aber auch die Unterschicht oder das Künstlermilieu nicht aus. Er nimmt sich viel Zeit die Schauplätze ausführlich zu schildern und verliert sich dabei in Details, die mit der Handlung nur wenig zu tun haben - scheinbar, denn sie komplettieren den Anschein eines Friedens, der dem Verfasser wichtig ist: Der Leser soll eingelullt werden.

Plötzlich kippt die Stimmung um. Birkin zieht die Samthandschuhe aus. Misstöne ziehen in das harmonische Geschehen ein, und sie werden stetig schriller. Unbehaglich verfolgt der Leser die Entstehung einer Krisensituation, die nicht nur unerwartet, sondern auch unaufhaltsam ist. Die Normalität entpuppt sich als Fassade, hinter der sich höllische Abgründe auftun.

Der Höhepunkt ist meist identisch mit dem Finale. Birkin lässt jede Zurückhaltung fallen. Er schont um des Effektes wegen weder Babys („Kitty Fischerin“, „Die Unnahbare“) noch schwangere Frauen, schändet Leichen oder pumpt allzu vertrauensselige Touristen blutleer. Es wird brutal, blutig oft schlicht widerlich. Der Kontrast zur Einleitung könnte - und soll - nicht größer sein. Macht Birkin es richtig, fühlt sich der Leser nicht nur unterhalten. Geschichten wie „Das Brandmal“, Der Finger der Furcht“, „Das Gottesgeschenk“, „Bello“ und vor allem „Das Kinderfest“ hinterlassen ein deutliches Gefühl des Unbehagens. Der eigentliche Schrecken entspringt nicht dem Jenseits, sondern wurzelt im menschlichen Hirn, um sich als Wahnsinn zu manifestieren („Kitty Fischerin“, „Das Brandmal“, „Wer ist deine Freundin?“, „Der Finger der Furcht“).

Andere Zeiten, andere (Un-) Sitten

Ein solcher Erfolg gelingt nicht immer. „Lot’s Weib“ oder „Der Gott der Zuflucht“ sind ‚nur‘ Geschichten mit böser, aber lustiger Auflösung. Mit „So bleich, so kalt, so tot“ oder „Eine faszinierende Schönheit“ schafft Birkin den Spagat zwischen Vorbereitung und Final-Effekt nicht; der eine ist in seiner Absurdität zu unglaubhaft, und der andere lässt das Intrigen-Opfer allzu simpel dem Wahnsinn verfallen, was vielen schlechten Autoren als billiger Ausweg dient.

Vielleicht sollte man besser von „politisch unkorrekten“ Untaten sprechen, denn zu den Exzessen des Splatterpunks späterer Horror-Jahre klafft doch eine deutliche Lücke. Bekanntlich gibt es einen angelsächsischen, d. h. gleichzeitig schwarzen und trockenen Humor. Berühmt sind die Briten auch für ihr Talent, Schreckliches deutlich, aber trotzdem zurückhaltend darzustellen. Als die hier gesammelten Storys erschienen, war Charles Birkin seit vier Jahrzehnten im Geschäft. Obwohl er sich sichtlich bemüht, die Gegenwart in seine Geschichten einfließen zu lassen, wirken kurze Momente sexueller Offenherzigkeit bemüht und aufgesetzt. Auf diese Art zu schockieren ist Birkins Ding eindeutig nicht.

Auch sonst stammt er nicht aus dem „Swinging London“ der späten 1960er Jahre. In Birkins literarischer Welt ist ein uneheliches Kind noch ein gesellschaftliches Todesurteil. Dies muss man verstehen, um die Verbissenheit zu begreifen, mit der sich die beiden weiblichen Protagonisten in (und um) „Gideon“ streiten oder Jacqueline in „Eine faszinierende Schönheit“ notfalls durch Mord Hindernisse auf dem Weg zur ‚ehrbaren‘ Ehefrau ausräumt.

Tugenden und Sünden der Vergangenheit

„Der Tod aus dem Meer“ ist eine lupenreine Gruselgeschichte aus Birkins frühen Autorentagen. Sie erschien bereits 1933 und bietet routinierten, angenehm angestaubten Schrecken; offenbar kannte Birkin das Werk des US-Kollegen H. P. Lovecraft. Ähnlich klassischen Horror präsentiert Birkin in „Besuch aus einer anderen Welt“, um die Auflösung zuletzt doch um ein ‚grausames‘ Detail zu bereichern.

Feministisch engagierte Leser/innen mögen über manche Geschichte die Stirn runzeln. Um 1970 steckte die Gleichberechtigung noch in den Kinderschuhen, wofür der Verfasser (unfreiwillig) zahlreiche Belege liefert. Dies ist aber nur ein Indiz dafür, dass die Schauergeschichte à la Charles Birkin im 21. Jahrhundert an Relevanz verloren und ihre Schockwirkung eingebüßt hat. Nichtsdestotrotz gefällt Birkin durch die Kunstfertigkeit, mit denen er sein Publikum erst einlädt, um es schließlich in Angst & Schrecken zu versetzen!

Anmerkung: Diese Neuveröffentlichung als Sammelausgabe ist begrüßenswert, aber immer noch unvollständig. Wie in den beiden deutschen Vorlage-Bänden fehlen die Storys „Hosanna!“ und „The Road“.

Fazit:

In seinen Geschichten lässt der Verfasser nackten Horror in trügerische Alltagssituationen einfallen. Birkins subtiler Stil und seine geschickte Ablenkung des Lesers machen den Schrecken umso nachhaltiger, auch wenn sich die ursprüngliche Schockwirkung viele Jahrzehnte nach der Erstveröffentlichung nicht mehr entfalten kann.

Der Tod aus dem Meer

Charles Birkin, Apex

Der Tod aus dem Meer

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