Insel ohne Meer

  • Goldmann
  • Erschienen: Januar 1966
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Insel ohne Meer
Insel ohne Meer
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Michael Drewniok
70°1001

Phantastik-Couch Rezension vonJun 2020

Nach der Apokalypse: die Barbarei

Guernsey ist die zweitgrößte jener englischen Inseln, die vor der Küste schon in Sichtweite Frankreichs im Kanal liegen. Hier hat sich Matthew Cotter eine Existenz als Gärtner aufgebaut. Sein ruhiges Leben ist vorbei, als ein gewaltiges Erdbeben die Insel erschüttert. Nicht nur Guernsey ist betroffen. Als Cotter sich aus den Trümmern seines Hauses befreit hat, muss er feststellen, dass sich das Meer zurückgezogen hat und das Festland zu Fuß erreicht werden kann.

Die meisten Inselbewohner sind umgekommen. Hilfe von außen ist nicht zu erwarten; offensichtlich wurde die gesamte Erde verheert. Die wenigen Überlebenden auf Guernsey versammeln sich um Joe Miller, der rücksichtslos das Kommando an sich reißt und schon für eine Zukunft nach dem großen Knall plant. Wie ein vorzeitlicher Häuptling organisiert Miller seinen ‚Stamm‘, teilt die gebärfähigen Frauen kräftigen Männern zu und duldet keinen Widerstand.

Cotter stellt sich gegen Miller. Mit dem 10-jährigen Billy Tullis, der bei dem Erdbeben seine Familie verlor und von Miller gerettet wurde, will er den Marsch aufs Festland wagen und seine Tochter suchen. Die Flucht gelingt, aber seine Erlebnisse in England lassen Cotter bald wünschen, den zweifelhaften Schutz von Guernsey nie aufgegeben zu haben …

Die Welt geht immer wieder unter

Die Briten sind ein Volk, das stolz auf seine Eigenheiten ist. Dazu gehören ein besonders trockener bis schwarzer Humor und die Liebe zu Untergangs-Szenarien. Seit H. G. Wells die Marsianer über England herfallen ließ, wiederholte sich die Apokalypse quasi regelmäßig. Mal fiel der Mond in den Ozean, der daraufhin die Zivilisation von den britischen Inseln spülte (R. C. Sheriffs, „The Hopkins Manuscript“, dt. „Der Mond fällt auf Europa“), dann wuselten genmutierte Mordpflanzen durch die Grafschaften (John Wyndham, „The Day of the Triffids“, dt. „Die Triffids“) oder Außerirdische kletterten mit finsteren Absichten aus den Tiefen des Atlantiks (noch einmal John Wyndham, „The Kraken Wakes“, dt. „Kolonie im Meer“/„Der Krake erwacht“).

John Christopher versuchte gleich mehrfach - mit einer Getreidepest („The Death of Grass“, dt. „Das Tal des Lebens“), einer neuen Eiszeit („The World in Winter“) oder eben mit einem monströsen Erdbeben seinen Landsleuten den Garaus zu machen. In der Tradition dessen, was Brian W. Aldiss als „gemütliche Katastrophe“ bezeichnete, bricht das Verderben erstens plötzlich und zweitens über ganz normale Durchschnittsmenschen herein. Zwar lebendig, aber praktisch mit leeren Händen stehen sie nun da und müssen die Krise meistern.

Wobei Christopher das „gemütlich“ aus seinen apokalyptischen Visionen energisch streicht. Wie er, der Weltwirtschaftskrise, Zweiten Weltkrieg und Kalten Krieg als Zeitgenosse und teilweise hautnah miterlebt hatte, das Lern- und Anpassungsverhalten des Menschen beurteilt, wirft ein düsteres Licht auf unsere Spezies.

Radikales Weltende ohne Lehreffekt

Dass England in der Realität jemals von einem Erdbeben der vom Verfasser beschriebenen Stärke heimgesucht wird, ist denkbar unwahrscheinlich. Dies war in den 1960er Jahren längst und auch Christopher bei der Niederschrift seines Romans bekannt; ein Indiz dafür, dass die eigentliche Katastrophe Nebensache ist. Dafür spricht ebenfalls, dass Christopher die wohl weltweite Verwüstung nur anspricht und sich auf einen kleinen Ausschnitt beschränkt. (Guernsey wählte der Autor übrigens als Handlungsort, weil er viele Jahre auf dieser Insel gelebt hat.) Der Untergang ist ein MacGuffin im Hitchcockschen Sinn - ein Vorwand, der den Rahmen für die Darstellung dessen schafft, was den Autor eigentlich interessiert.

Christopher geht es um das Verhalten von Menschen in der Krise. Er nimmt sich die Zeit, das Leben vor dem Ende zu beschreiben. Im Wissen um den Untergang wirken die Rituale des modernen Alltagslebens ebenso nichtig wie liebenswert. Matthew Cotter ist kein ‚Macher‘, sondern ein kleiner Gärtner, den seine Nachbar gern mit einer alleinstehenden Witwe verkuppeln mochten. Auf sein Überleben nach dem Zusammenbruch würde man nicht unbedingt wetten.

Aber Cotter verfügt über eine Eigenschaft oder besser: Nicht-Eigenschaft, die ihn retten wird: Er hängt nicht allzu sehr an den Werten der ‚alten‘ Welt, die er deshalb abschütteln kann, wo andere Menschen erstarren, der Vergangenheit nachtrauen und auf Hilfe von außen warten, bis es zu spät ist. Nur seine Liebe zur verschollenen Tochter mag Cotter nicht aufgeben, und exakt dies wird ihn mit einem Grauen konfrontieren, das er sich hätte ersparen können.

Anpassen - herrschen - unterwerfen

Das Überleben folgt nach Christopher archaischen Regeln. Der Mensch ist unter einer dünnen zivilisatorischen Tünche immer noch das Produkt einer Vorzeit, in der das Wort und vor allem die Waffe des Stärkeren Primär-Geltung genossen. Ohne Kultur und Technik bricht die Bestie auf breiter Front wieder durch.

Während Cotter auch in der Krise menschliche Werte hochhält, schlägt nach dem Tag X die Stunde der Despoten. Christopher unterscheidet zwischen brutalen Egoisten, die sich mit Gewalt nehmen, was sie wollen, und dabei schwächere Personen unter ihre Gewalt bringen, und wohlwollenden Tyrannen, die einen ‚Stamm‘ um sich scharen und das Weiterleben nach ihren Vorstellungen organisieren.

Cotter steht zwischen Herrschern und Untertanen. Obwohl er die Zügel in die Hand nehmen könnte, weigert er sich eine Seite zu wählen. Durch Intelligenz und ein Einfühlungsvermögen, in das sich eine hohe Dosis Opportunismus mischt, kann Cotter sich die neuen Häuptlinge und Warlords eine Weile vom Hals halten. Die Entscheidung wird dadurch nur aufgeschoben. Irgendwann muss Cotter Farbe bekennen.

Ein nicht goldener, aber möglicher Mittelweg

Dieser Lernprozess wird ihn zeichnen. Christopher stellt Cotter nie als klassischen Helden dar. In eindeutiger Kenntnis des Zwangs, mit dem „König Miller I.“, wie er ihn ironisch nennt, über ‚seine‘ Untertanen herrscht, verweigert Cotter die Konfrontation. Stattdessen setzt er sich in der Nacht heimlich ab und nimmt darüber hinaus ein Kind mit auf eine gefährliche Odyssee mit ungewissem Ausgang.

Billy ist nicht nur Identifikationsfigur für jüngere Leser. Er begleitet und verkörpert Cotters Weg zur Erkenntnis. Auf seiner von Anfang an sinnlosen Suche nach der Tochter setzt er das Leben eines buchstäblich greifbaren Menschen, der auf seine Solidarität angewiesen ist, aufs Spiel. In der ultimativen Krise sind keine Visionäre, sondern Realisten gefragt, die sich mit den Gegebenheiten arrangieren.

Am Ende hat Cotter seine Lektion gelernt und seinen eigenen Weg in die Zukunft gefunden. Er wird der Not gehorchen, sich ihr jedoch nicht beugen. Auf diese Weise verbindet er Realitätssinn mit Zivilisation, schafft sich eine Lebensperspektive und erspart dem Leser ein unrealistisches Happy-End, sondern schließt eine trotz des Themas ‚stille‘, aber spannende Geschichte zufriedenstellend ab.

Fazit:

Klassische Katastrophen-SF, die am Beispiel einer repräsentativen Gruppe die möglichen Folgen einer Apokalypse durchspielt; dem Roman mangelt es zwar an Überzeugungskraft, nicht jedoch an Spannung.

Insel ohne Meer

John Christopher, Goldmann

Insel ohne Meer

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