Lovecrafts Monster

  • Festa
  • Erschienen: September 2020
  • 0
Lovecrafts Monster
Lovecrafts Monster
Wertung wird geladen
Michael Drewniok
90°1001

Phantastik-Couch Rezension vonOkt 2020

16 neu[zeitlich]e Begegnungen mit uralten Schrecken

In 16 kürzeren und langen Geschichten (und zwei Gedichten) leben die urzeitlich-kosmischen Gruselgestalten des H. P. Lovecraft wieder auf und zeigen sich dabei erschreckend/unterhaltsam gegenwartstauglich:

- StefanDziemianowicz: Vorwort (Foreword), S. 9-18

- Ellen Datlow: Einleitung (Introduction), S. 19/20

- Neil Gaiman: Bloß wieder mal das Ende der Welt (Only the End of the World Again; 1994), S. 21-45: In Innsmouth bereiten sich die Anhänger des Cthulhu auf die Rückkehr ihres ‚Gottes‘ vor; zwischen ihnen und dem Ende der Welt steht nur ein - Werwolf.

- Laird Barron: Dampfwalze (Bulldozer; 2004), S. 46-93: Im (noch) Wilden Westen der 1890er Jahre jagt Pinkerton-Detektiv auf Jonah Koenig einen Serienkiller und Kannibalen, der sich auch sonst als gänzlich unmenschlich erweist.

- Nadia Bulkin: Rote Ziege Schwarze Ziege (Red Goat Black Goat: 2010), S. 94-112: Der Job als Kindermädchen bringt Kris nicht die erhoffte Erfüllung, denn eine über- und unirdische Macht erhebt nachdrücklich Anspruch auf den (noch) menschlichen Nachwuchs.

- Brian Hodge: In den gleichen tiefen Wassern wie ihr (The Same Deep Waters as You; 2013), S. 113-173: Seit 1928 schmachten die gefangenen Amphibien-‚Menschen‘ von Innsmouth in einem US-Geheimgefängnis, doch endlich meldet sich ihr Meister, wofür eine zu lange ahnungslose Wissenschaftlerin mitverantwortlich ist.

- Kim Newman: Viertel vor drei (A Quarter to Three; 1988), S. 174-180: Das hochschwangere Mädchen trifft den untreuen Kindsvater, der aus der verrufenen Stadt Innsmouth stammt und dies nicht verbergen kann.

- William Browning Spencer: Das gesprenkelte Ding (That Dappled Thing; 2011), S. 181-207: Die Rettungsaktion im südamerikanischen Dschungel führt nicht nur unter Kannibalen, sondern auch an einen See, in dem eine Kreatur haust, die ihre Chance zur Flucht rabiat zu nutzen weiß.

- Elizabeth Bear: Elastische Stöße (Inelastic Collisions; 2007), S. 208-221: Zwei gefallene Engel geraten an einen ehemaligen Cthulhu-Jünger.

- Fred Chappell: Überlebende (Remnants; 2010), S. 222-294: Die Erde wurde von den „Großen Alten“ erobert, die meisten Menschen sind tot. Doch im All organisiert sich Widerstand, weshalb eine Rettungstrupp nach irdischen Überlebenden fahndet.

- Caitlín R. Kiernan: Liebe ist verboten, so krächzen und jaulen wir (Love Is Forbidden, We Croak and Howl; 2012), S. 295-304: Ausgerechnet ein leichenfressender Ghoul verliebt sich eine schöne Frosch-Maid aus dem verrufenen Innsmouth.

- Thomas Ligotti: Die Sekte des Idioten (The Sect of the Idiot; 1988), S. 305-319: Wie eine Motte vom tödlichen Kerzenlicht wird ein Mann von einer dunklen Stadt und ihren Geheimnissen angezogen, bis sich ihm eine Wahrheit offenbart, die zumindest sein Menschenschicksal besiegelt.

- Gemma Files: Das Salzgefäß (Jar of Salts; 2010), S. 320/21

- Steven Utley/Howard Waldrop: Schwarz wie die Hölle, von Pol zu Pol (Black as the Pit, from Pole to Pole; 1977), S. 322-382: Nach dem Tod seines Schöpfers gerät Frankensteins Ungeheuer in die am Pol hohle Erde und befreit in einer der unterirdischen Welten Kreaturen, die besser hinter Gittern geblieben wären.

- Steve Rasnic Tem: Warten im Crossroads Motel (Waiting at the Crossroads Motel; 2012), S. 383-394: Die Rückkehr uralter ‚Götter‘ löst bei ihren irdischen ‚Kindern‘ nicht die erhoffte Wiedersehensfreude aus.

- Karl Edward Wagner: „I've Come to Talk with You Again“ (I've Come to Talk with You Again; 1995), S. 395-402: Der alte Mann hat seine Freunde für Gesundheit und Erfolg einem nur ihm sichtbaren Grauen geopfert; nun wird es Zeit für frisches Blut.

- Joe R. Lansdale: Der blutende Schatten (The Bleeding Shadow; 2011), S. 403-446: Nicht dem Teufel ist der erfolglose Musiker in die Falle getappt, doch das Ding aus dem Pandämonium der „Großen Alten“ fordert ebenfalls seinen furchtbaren Preis.

- Nick Mamatas: Das, wovon wir sprechen, wenn wir über das Unsagbare sprechen (That of Which We Speak When We Speak of the Unspeakable; 2009), S. 447-455: Während sie darauf warten, von den Schergen des Cthulhu in Stücke gerissen zu werden, vertreiben sich einige überlebende Menschen die Zeit mit müßigem Smalltalk.

- Gemma Files: Haruspex (Haruspicy; 2011), S. 456-458

- John Langan: Kinder des Reißzahns (Children of the Fang; 2014), S. 459-534: Was der Großvater einst in der Sahara aus einem uralten ‚Grab‘ barg und mit nach Haus brachte, hat er seither sorgsam versteckt bzw. eingesetzt, um Feinde sowohl grausam als auch spurlos verschwinden zu lassen.

- N. N.: Monsterverzeichnis (Monster Index; 2014), S. 535-555

Der Mann, der Mythos, die Folgen

Es ist eine der vielen Ungerechtigkeiten des ‚Schicksals‘, dass Howard Phillips Lovecraft (1890-1937) früh und weitgehend unbeachtet starb. Er erlebte nicht mehr, dass sein Wunsch in Erfüllung ging: Mit den Geschichten um den Kröten-‚Gott‘ Cthulhu und seinen sogar noch übleren Genossen und Gehilfen gelang Lovecraft die Erschaffung eines Horror-Mythos‘, der buchstäblich wuchs und gedieh.

Schon zu Lovecrafts Lebzeiten beteiligten sich Autoren-Freunde wie Robert E. Howard, Clark Ashton Smith, August Derleth oder Robert Bloch eifrig an der Ausweitung dieses literarischen Konzepts. Sie schrieben Storys, in denen sie Lovecrafts Vorgaben aufgriffen und mit Ideen erweiterten, die dieser wiederum übernahm. Die Freunde setzten dies nach Lovecrafts frühem Tod fort.

Ein Grusel-Kosmos entstand, der in den 1960er und 70er Jahren eine fulminante Wiedergeburt erlebte. Junge Autoren setzten einerseits Lovecrafts Werk fort, während sie es andererseits ‚modernisierten‘. Frischer Wind unterstützte die Lebenskraft eines Mythos‘, der sonst womöglich in Selbstbespiegelung erstarrt wäre. Inzwischen ist die Zahl der Romane und Erzählungen, die im Cthulhu-Universum spielen, um ein Vielfaches größer als Lovecrafts ursprüngliches Werk.

Faszination der (schleimigen) Finsternis

Natürlich versuchten (viel zu) viele Autoren die möglichst perfekte Lovecraft-Kopie. Meist entstanden steife Pastiches, die höchstens bewiesen, wie gut = unerreicht die Originale waren. Die ewige Variation bekannter Plots und Schauplätze dominieren die Mehrzahl dieser Nachahmungen, die indes ein Publikum fanden, das genau diese ‚Qualitäten‘ forderte. (Um gerecht zu bleiben: Thomas Ligotti [*1953] gelingt es, kunstvoll und spannend Lovecraft zu folgen, ohne in seine Fußstapfen zu geraten.) Noch fragwürdiger sind jene ‚Neuschöpfungen‘, die sich auf „Torture-Porn“-Schleim-Sex kaprizieren, der - in diesem Punkt lag der puritanische Lovecraft richtig - keine unbedingte Ergänzung des Mythos darstellt; Datlow hat ihn zum Vorteil dieser Sammlung ausgeklammert.

Wesentlich interessanter waren und sind Storys, deren Autoren mit dem Mythos ‚spielen‘, ihn erweitern, neue Aspekte finden, Altes in aktuelles Licht tauchen, ohne ihn dadurch zu zerstören, wie Lovecraft-Puristen fürchten. Natürlich können auch diese Autoren scheitern (s. u.), aber wenn sie wissen, was zu tun ist, gelingt ihnen Großartiges (ebenfalls s. u.).

Selten genug gelangen Sammelbände übersetzt nach Deutschland, in denen das breite Spektrum solcher Lovecraft-Neuinterpretationen aufgefächert wird. 2014 trug Ellen Datlow (*1949) 16 Novellen und Kurzgeschichten (sowie zwei Gedichte) zusammen, die sechs Jahre später ausgezeichnet übersetzt und schön aufgemacht (sowie erfreulich kostengünstig) im Festa-Verlag erschienen. Ausführlich eingeleitet und in die nicht unkomplizierte Mythos-Genese eingeordnet werden sie von Stefan Dziemianowicz (*1957), bevor der auch für seine Comics („Sandman“) berühmte Neil Gaiman (*1960) Lovecrafts Konzept umgehend aufbricht, indem er einen Werwolf nach Innsmouth versetzt. Das funktioniert, weil Gaiman es versteht, dem an sich absurden Plot Glaubwürdigkeit zu verschaffen. Dass so etwas riskant ist, macht unfreiwillig Elizabeth Bear (1971) mit einem nur vordergründig bemerkenswerten Treffen zwischen zwei abtrünnigen Engeln und einem „Tiefen Wesen“ deutlich.

Nostalgisch oder ‚modern‘, Horror oder Science Fiction

„Lovecrafts Monster“ ist ein Füllhorn wunderbar seltsamer Einfälle. So lassen Steven Utley (1948-2013) und Howard Waldrop (*1946) Frankensteins Monster nicht nur versehentlich die monströsen Schoggothen befreien, sondern treiben es durch eine hohle Erde, die absurde Theorien des 19. Jahrhunderts mit Trivialmythen vermischt; es gibt sogar einen Cameo-Auftritt von Moby Dick. Dieser Mix ist aufwändig; andere Autoren hätten daraus eine Endlos-Serie gemolken.

Wenn es nicht stört, dass viele Autoren vom ‚eigentlichen‘ Mythos abgehen bzw. ihn als Hintergrund für eigene Erzähl-Schöpfungen einsetzen, steigert sich das Vergnügen an diesem Sammelband beträchtlich. Laird Barron (*1970) wildert im Western-Genre. Altmeister Fred Chappell (*1936) widmet den Mythos zur lupenreinen Science Fiction um. Joe R. Lansdale (*1951) schafft es, Cthulhus Welt mit ‚seinem‘ typischen Southern-Gothic-Horror zu verknüpfen. William Browning Spencer (*1946) kleidet erfolgreich ein Lovecraft-Garn in ein „Steam-Punk“-Gewand. Karl Edward Wagner (1945-1994) und John Langan (*1969) greifen nicht einmal auf ‚originale‘ Lovecraft-Kreaturen zurück. Sie sehen den Mythos so, wie sein Schöpfer ihn wünschte: als Sammelbecken, das Autoren mit eigenen Inhalten bereichern sollten.

Brian Hodge (*1960) schließt an die schon 1931 entstandene, aber erst 1936 veröffentlichte Lovecraft-Story „The Shadow Over Innsmouth“ (dt. „Schatten über Innsmouth“) an, die zu den Stützpfeilern des Mythos‘ zählt. Zwar ist die Fortsetzung des Geschehens in der Gegenwart reizvoll, doch letztlich kann Hodge dies nur bedingt mit einer den Umfang des Werks rechtfertigenden Idee krönen; eine Falle, in die auch der ansonsten so ideenreiche (vgl. seine grandiose „Anno-Dracula“-Serie) Kim Newman (*1959) tappt. Steve Rasnic Tem (*1950) legt zu großen Wert auf (freilich gelungenen) Schock in der Vorbereitung, hinter der die Auflösung zurückbleibt. Nadia Bulkin (*1987) gelingt ‚nur‘ Routine (= unterhaltsame Horrorkost), obwohl sie den Mythos an einen ungewöhnlichen Schauplatz verlegt. Nick Mamatas (*1972) irritiert lange mit einer scheinbar richtungslosen, von wirren Outcasts geführten Debatte, deren Sinn sich im gnadenlosen Finale offenbart - und ausgerechnet die sonst gern schmalzige Caitlín R. Kiernan (*1964) begeistert mit einer knochentrocken komischen Mythos-Interpretation.

Anmerkung 1: Lovecraft verfasste unzählige Gedichte, weshalb Herausgeberin Datlow auch der Poesie Raum gewährt. Ob Gemma Files (*1968) gute Arbeit geleistet hat, kann und möchte dieser Rezensent - der für Poesie keine Antenne besitzt - nicht beurteilen (obwohl oder gerade weil er sich ein Urteil gebildet hat.)

Anmerkung 2: Den weniger mit dem Mythos vertrauten Lesern bietet im Anhang ein „Monsterverzeichnis“ Hilfe bei der Identifizierung jener Wesen, die in den gesammelten Storys auftreten.

Fazit:

Diese Sammlung neuer Geschichten aus dem Cthulhu-Mythos beginnt etwas schleppend, steigert sich dann aber stetig, um sich auf überdurchschnittlichem Unterhaltungsniveau einzupendeln. Krude Ideen werden spannend umgesetzt, Überraschungen sind gewährleistet. Die Übersetzung ist ausgezeichnet, das Buch liegt solide und schön gestaltet in der Hand: nicht nur für Lovecraft-süchtige Phantastik-Leser eine Fundgrube!

Lovecrafts Monster

Ellen Datlow, Festa

Lovecrafts Monster

Ähnliche Bücher:

Deine Meinung zu »Lovecrafts Monster«

Wir freuen uns auf Deine Meinungen. Ein fairer und respektvoller Umgang sollte selbstverständlich sein. Bitte Spoiler zum Inhalt vermeiden oder zumindest als solche deutlich in Deinem Kommentar kennzeichnen. Vielen Dank!

Letzte Kommentare:
Loading
Loading
Letzte Kommentare:
Loading
Loading

Sci-Fi & Mystery
(MUSIC.FOR.BOOKS)

Du hast das Buch. Wir haben den Soundtrack. Jetzt kannst Du beim Lesen noch mehr eintauchen in die Geschichte. Thematisch abgestimmte Kompositionen bieten Dir die passende Klangkulisse für noch mehr Atmosphäre auf jeder Seite.

Sci-Fi & Mystery