Teufelsnacht

  • Piper
  • Erschienen: Oktober 2021
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Teufelsnacht
Teufelsnacht
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Michael Drewniok
85°1001

Phantastik-Couch Rezension vonJan 2022

Die Tat, die Rache und ihr Preis

In der englischen Grafschaft Suffolk herrscht in den frühen Jahren des 20. Jahrhunderts Historiker Edmund Stearne über seine Familie: Gattin Dorothy, Sohn Richard und Tochter Maud. In dieser Ära ist der Mann und Vater das uneingeschränkte Oberhaupt. Er hat zu bestimmen, nicht nur die Bediensteten, sondern auch die Familienmitglieder haben sich seinem Willen zu unterwerfen. Darunter leidet vor allem Dorothy. Trotz ihrer schwachen Gesundheit pocht Edmund auf die Einhaltung der „ehelichen Pflichten“. Sie stehen ihm gesetzlich zu, und es schert ihn nicht, dass Dorothy ständig schwanger ist und Fehlgeburt auf Fehlgeburt folgt, was sie schließlich umbringt.

Nun leben Edmund, Maude und Richard allein unter dem Dach von Wake’s End, dem einsam am Rand des Moores gelegenen Stearne-Haus. Edmund vergräbt sich in seine Arbeit. Die Kinder ignoriert oder straft er. Um seinen ‚männlichen Trieb‘ zu befriedigen, hat er das hübsche Hausmädchen Ivy eingestellt.

Maud leidet unter der Situation. Der lieblose Vater nutzt sie inzwischen als Sekretärin aus, ohne die Intelligenz seiner Tochter zu achten oder gar zu fördern. Maud kapselt sich ab, beginnt dem Vater zu trotzen. Sie stiehlt Edmunds Tagebuch. Die Einträge spiegeln nicht nur die Selbstsucht und Gefühlskälte dieses Mannes wider, sondern verraten, dass Edmund vor Jahren für den tragischen Tod seiner Schwester verantwortlich war und insgeheim fürchtet, sie könne ihn als Geist heimsuchen und sich an ihm rächen. Hier setzt Maud an. Geschickt streut sie Verdachtsmomente, die ein übernatürliches Wirken nahelegen. Edmund wird zunehmend labiler. Zudem gibt es Anzeichen dafür, dass es im nahen Moor tatsächlich umgeht …

Realer Familienalltag bzw. -horror

Isolation, innerfamiliäre Lieblosigkeit, im eigenen Sud kochende Gefühle: Wake’s End ist ein wahrer Hexenkessel, dessen Feuer durch gesellschaftliche Vorgaben bzw. Vorurteile geschürt wird. Die zentrale Handlung spielt in den Jahren bis 1913. Frauen werden als Menschen zweiter Klasse betrachtet. Gesetz und Kirche schließen sie (nicht nur) in England als selbstständig über ihr Schicksal bestimmende Bürgerin aus. Erst der Vater, später der Ehemann oder - falls besagte Frau nicht „unter die Haube“ kommt - ihr Bruder, Onkel oder ein anderes männliches Familienmitglied bestimmt über ihr Geschick.

Über eigenes Vermögen und damit die Option für ein selbstständiges Leben verfügt Maud Stearne nicht. Als geistig schwaches, von ihren Gefühlen gesteuertes Wesen würde sie es sicherlich vergeuden. Sie ist dem Vater buchstäblich ausgeliefert. Durchaus vorhandene töchterliche Liebe wird systematisch ausgelöscht. Edmund Stearne mag ein Opfer tradierter Erziehungs- und Verhaltensmuster sein. Doch er sieht keinen Grund aus erlebten und erlittenen Fehlern zu lernen. Stattdessen schlüpft er ganz selbstverständlich in die ihm zustehende Rolle und entwickelt sich zu einem Tyrannen, den seine Familie und seine Bediensteten gleichermaßen fürchten.

Gattin Dorothy muss die Akzeptanz ihrer Rolle mit dem Leben bezahlen. Edmund bedrängt sie sexuell, verweigert aber jegliche Empfängnisverhütung, weil diese seitens der Kirche verboten ist: Edmund ist fromm bzw. scheinheilig, und Dorothy fügt sich, bis sie auf einem weiteren Kindbett verblutet. Edmund trauert vor allem aufgrund seines ‚Triebstaus‘, bis er eine Möglichkeit gefunden hat, diesen zu befriedigen. Es darf nur nichts offiziell werden.

Etwas geweckt, das besser geruht hätte

„Teufelsnacht“ beschreibt die Revolution einer jungen Frau, die es satt hat betrogen und unterdrückt zu werden. Maud muss auf eine echte schulische oder gar universitäre Ausbildung verzichten. Als Frau soll sie vor allem auf ihre zukünftige Rolle als Ehegattin und Mutter vorbereitet sein. Damit ist sie nicht einverstanden. Lange begreift Maud nicht, wieso sie der Vater ignoriert und straft. Schmerzlich muss sie lernen, dass Edmund ein kalter Mensch ist, den nur die eigenen Bedürfnisse interessieren.

Dieser Prozess wird von Autorin Michelle Paver dramatisch, aber ohne Druck auf die Tränendrüse oder offensive Empörung dargestellt. Nüchtern und deshalb umso wirkungsvoller schält sich ein Frauenschicksal heraus, wie es seinerzeit viel zu alltäglich gewesen sein dürfte. Doch Paver geht einen Schritt weiter. Sie will nicht nur anklagen, sondern eine Geschichte erzählen.

Maud will sich rächen - nicht nur wegen der selbst erlittenen Verletzungen, sondern auch im Namen der zu Tode geschwängerten Mutter. Sie weiß, dass offener Widerstand nutzlos ist, da Gesetz, Gesellschaft und Kirche auf Edmunds Seite stehen. Mauds Versuche in diese Richtungen enden erfolglos. Niemand wird ihr zur Seite stehen. Sie muss sich selbst helfen.

Furcht vor der ungebändigten Natur

Maud macht sich den Aberglauben ihrer Zeit zu Nutzen. Naturwissenschaft und Technik haben ihn nur scheinbar verdrängt. Wake’s End liegt quasi auf einer Schnittstelle zwischen der durch Magie und Zauberglaube bestimmten Vergangenheit und der betont rationalen Gegenwart. Unterschwellig ist die Furcht vor einem Jenseits, das rächende Geister und ähnliche Spukgestalten über schuldige, aber ungestraft gebliebene Zeitgenossen bringt, auch in vordergründig darüber erhabenen Menschen wie Edmund Stearne lebendig.

Wie Maud dies systematisch instrumentalisiert, um ihren Vater aus dem Gleichgewicht zu bringen, schildert Paver detailliert und plausibel. Daraus ergibt sich jedoch mehr als eine simple Rachegeschichte. Maud wagt sich dorthin, wo Anfang des 20. Jahrhunderts potenziell gefährliches Nichtwissen herrscht. Die Erforschung der menschlichen Psyche ist Neuland. Maud muss feststellen, dass sie zwar auf die richtigen Knöpfe gedrückt hat. Die Folgen gehen allerdings weit über die von ihr angedachte Rache hinaus. Edmund Stearne dreht durch - und sorgt 1913 für jene groteske Tragödie, die zum Einstieg in diese Romangeschichte wird. Zwar bekommt Maud ihre Rache, aber die Befriedigung bleibt aus. Edmunds Explosion zerstört ihr Leben endgültig. Die nächsten sechzig Jahre bestraft sich Maud, indem sie sich in Wake’s End zusammen mit ihren Erinnerungen quasi selbst einmauert - ein Schicksal, das die 1966 spielende Rahmenhandlung aufgreift.

Das Moor wird zum Spiegelbild nur vorgeblich überwundener Angst vor einem Jenseits, das sich nicht um menschliche Gesetze schert. Autorin Paver beschreibt wortgewaltig eine weiterhin ‚wilde‘ Natur, die je nach Sicht fasziniert (Maud) oder erschreckt (Edmund). Nicht alle Ereignisse, die den Vater in den Wahnsinn treiben, wurden von Maud inszeniert; womöglich hat sie ein echter Spuk ‚unterstützt‘. Auf dem schmalen Grat zwischen Psychologie und Horror gelingt Paver ein ‚gotischer“ Schrecken, der sich zusätzlich auf Andeutungen, (gut erfundene) Legenden und (ebenfalls einfallsreich ausgedachte) Folklore stützt. Diese Ambivalenz treibt die jederzeit spannende, mit kantenscharf und gut gezeichneten Figuren besetzte und wendungsreiche Story zum bizarren, früh enthüllten, aber erst nachträglich verständlichen Höhepunkt.

Fazit:

„Teufelsnacht“ ist Historiendrama, Thriller und „gotischer“ Horror. Autorin Paver drückt nicht auf die Tränendrüse oder hebt den Zeigefinger, wenn sie die „Coming-of-Age“-Geschichte einer unterdrückten Frau erzählt, deren Rache gleichzeitig gelingt und scheitert. Zwar bemüht sie zahlreiche Klischees, weiß diese aber wirkungsvoll in die wendungsreiche Handlung einzubetten.

Teufelsnacht

Michelle Paver, Piper

Teufelsnacht

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