Ein Sieg und 99 sichere Tode
In dieser nicht allzu fernen Zukunft hat das Militär die Macht in den USA übernommen. Das Regime herrscht mit Gewalt; dies ist auch deshalb notwendig, weil es ungeachtet leerer Versprechungen ökonomisch immer weiter abwärts geht. Wer seinen Unmut öffentlich werden lässt, endet in einem der Lager für Oppositionelle aller Art oder gleich vor einem Erschießungskommando.
Der „Major“ sorgt für Ablenkung nach dem alten Motto „Brot & Spiele“. Er hat den „Langen Marsch“ ins Leben gerufen: 100 männliche Jugendliche treten gegeneinander an, um zu laufen, bis sie umfallen. Wer auf diese Weise ‚ausscheidet‘, wird erschossen, woraus die Spannung für jene resultiert, die nicht teilnehmen, sondern das Spektakel daheim vor dem Fernseher verfolgen oder die Teilnehmer vom Straßenrand aus beobachten.
Ray Garraty hat sich im üblichen Alter von 16 Jahren gemeldet. Der Preis für den letzten Überlebenden - ein Leben ohne finanzielle Sorgen - ist zu verlockend. Über das Risiko hat er sich wenig Gedanken gemacht. Ray kann und will nicht glauben, dass es ihn treffen könnte. So denken auch seine Leidensgefährten, doch rasch lernen sie die mörderische Realität kennen. Während Leichen ihren Weg säumen, marschiert die zusammenschmelzende Schar und erleidet Höllenqualen, bis sogar der Tod verlockend wirkt ...
Dein Land (miss-) braucht dich!
Liest man diese intensiv bitterböse, deprimierende Geschichte, mag kaum glauben, dass ein gerade zwanzigjähriger ‚Mann‘ sie verfasst hat. Offensichtlich verfügte schon der blutjunge Stephen King über jenes schriftstellerische Talent, das ihm seine Kritiker lange und gern abgesprochen haben. 1966/67 während seiner Studienzeit entstanden, landete das Manuskript von „The Long Walk“ erst einmal in einer Schublade. Acht Jahre später erschien ein erster ‚offizieller‘ Roman („Carrie“), und der Stern des Stephen King stieg dorthin auf, wo sich der Erfolg buchstäblich beziffern lässt: in die Bestsellerlisten dieser Welt.
In den 1970er Jahren begann auch „Richard Bachman“ zu veröffentlichen. Bis gar zu viele Leser bemerkten, dass King unter diesem Pseudonym mit Inhalten experimentierte, ohne sich dem Urteil eines ebenso kopfstarken wie unduldsam auf „King-Horror“ bestehenden Publikums beugen zu müssen, erschienen mehrere Romane. „The Long Walk“ tauchte als Bachman-Titel wieder auf und wurde sicherlich überarbeitet, aber nicht seiner Intensität beraubt. Der Roman gilt als moderner Klassiker, der seit Jahrzehnten neu aufgelegt wird (und als „Todesmarsch“ auch hierzulande seit 1987 permanent erhältlich ist).
Als King seinen Erstling schrieb, flossen darin Wut und Angst eines Mannes ein, der wie seine Protagonisten in Lebensgefahr schwebte: Die Musterung stand an, und würde man King für tauglich befinden, ginge es nach Vietnam. Dort führten die USA einen nie offiziell erklärten, aber erbittert geführten Stellvertreterkrieg mit den kommunistischen Erzbösen UdSSR und China. Zu Tausenden kamen junge Männer aus den USA in ein fernes Land, um angeblich die Freiheit zu verteidigen. Tatsächlich töteten sie systematisch unschuldige Zivilisten, verloren darüber den Verstand und/oder das Leben.
Leid, Erlösung und Tod
King musste nicht einrücken, aber „The Long Walk“ fixiert eine für viele gleichaltrige Zeitgenossen typische Haltung zwischen Ablehnung und ‚Pflichtbewusstsein‘: Niemand wollte töten oder sterben, aber durfte man sich dem Ruf des Vaterlandes verweigern? In den 1960er Jahren galt Patriotismus noch als Tugend, die man hochhielt und über die man sich nicht lustig machte. Ray Garraty stellt sich immer wieder die Frage, wieso er sich dem „Langen Marsch“ nicht verweigert hat: Er konnte es nicht, weil man ihm dessen Ehrenhaftigkeit eingetrichtert hatte. Die Kandidaten werden als Vorbilder hingestellt bzw. verkauft, wie Ray und seine von Staats wegen fehlgeleiteten Zwangsgefährten zu spät feststellen: Als sie in Vietnam ankommen = der Startschuss fällt, sind sie Zahnräder einer Todesmaschine, die sie nicht mehr freigeben wird.
Der Blitz dieser Erkenntnis trifft die Läufer auf unterschiedliche Weise. King gibt dem Moment viel Raum. In schockierten, wütenden, verzweifelten Klagen spiegelt sich das Dilemma wider: Man wurde betrogen, aber das interessiert höchstens die Betroffenen. Die Regierung schickt sie in den Tod, kaschiert dies jedoch durch zeremonielles Brimborium. Um das Schlachtfest zum edlen Wettkampf aufzuwerten, werden die Medien instrumentalisiert, die nur dem Spannungsfaktor Raum geben, nur (noch) lebendige Läufer zeigen, nur ‚schöne‘ Bilder und Lügen verbreiten.
Die Rechnung geht auf: An der Strecke stehen Zuschauer und feuern die Läufer an. Man präsentiert ihnen Gladiatoren der Gegenwart: Wer teilnimmt, hat schriftlich seine Einwilligung erklärt und muss nun das Risiko tragen, auch wenn dies identisch mit dem Tod ist. Da laufen sie nun und fragen sich, wie sie in dieses Schlamassel geraten konnten. Doch es sind 16- und 17-Jährige, die sich in ein ‚Abenteuer‘ gestürzt haben, ohne die Konsequenzen zu erfassen. Dass dies ihren geistigen Horizont übersteigt, macht das Regime sich zunutze. Jugendlicher Überschwang und naiver Machismo lassen die Falle endgültig zuschnappen.
Lebenslektionen im Zeitraffer
100 Teilnehmer bilden das Feld. King konzentriert sich auf eine kleine Gruppe, deren Zusammensetzung sich während der endlosen Stunden des Marsches ändert, weil wieder jemand stirbt, den man als Rivalen sehen sollte, aber nicht kann. Menschlichkeit findet man ausgerechnet unter den Läufern. Sie mögen sich streiten und einander den Tod wünschen, aber irgendwann kommt der Moment, in dem Angst allen (Hoch-) Mut auflöst und alle Masken fallen. Die Teilnehmer fürchten und sehnen diesen Moment herbei. Sie sehen, was ihnen sehr wahrscheinlich selbst blühen wird, und sie schämen sich, weil sie dem Sieg wieder einen Schritt = eine Leiche nähergekommen sind.
King bleibt erbarmungslos auf seine Protagonisten fokussiert. Wir sehen sie schwitzen, leiden, verfallen und schließlich sterben. Der Tod ereilt die Laufenden, und er ist nie edel, nicht einmal pathetisch, sondern nur grausam und grässlich. Jeder Teilnehmer muss auch geistig einen eigenen langen Weg gehen. Mancher schafft es nicht, will flüchten und stirbt schreiend. Andere brechen zusammen. Nur wenigen gelingt es, sich mit ihrem Schicksal abzufinden und mit einer gewissen Würde abzutreten. Noch kleiner ist die Zahl derer, die sich auflehnen und mit bloßen Händen das dem Zug folgende Todeskommando angreifen.
Man mag dies für didaktisch halten oder Klischees monieren. Die Wucht des Geschehens und Kings trügerisch simpler Stil halten solche Kritik freilich klein. „Todesmarsch“ ist keine der vielhundertseitigen Schwarten, für die King später berüchtigt wurde. Der Plot ist simpel, und er weicht nicht von jener Strecke ab, über die sich die Läufer quälen. Was geschieht, geschieht schnell und brutal. Die Botschaft ist grimmig, und natürlich gibt es kein Happy-End, sondern ein offenes (und ein wenig zu symbolträchtiges) Ende. Wie könnte ein solcher Horror auch ‚glücklich‘ enden?
„The Long Walk“ im Kino
Bekanntlich gibt es ein eigenes Subgenre für Filme und Serien, die nach Romanen und Storys von Stephen King entstanden. Ihre Zahl ist dreistellig und wächst ständig. Manches Werk wurde schon mehrfach aufgegriffen. „Stephen King“ ist ein Branding, auf das sich viele Studios, Drehbuchautoren oder Regisseure gern und allzu fest stützen. Die Flop- und Heuler-Quote ist berühmt und berüchtigt.
Deshalb ist es sowohl erstaunlich als auch erfreulich, dass „The Long Walk“ dem Fluch entrinnen konnte. Dabei dauerte es viele Jahrzehnte, bis der Film endlich realisiert wurde. Niemand Geringerer als George A. Romero („Night/Dawn/Day of the Dead“) wollte den Roman umsetzen. Er und weitere Interessenten scheiterten an der schwierigen Aufgabe, eine Story zu bebildern, die erstaunlich handlungsarm ist: Menschen marschieren und sterben dabei. Die eigentliche Dramatik spielt sich in den Köpfen der Teilnehmer ab. Man denkt und spricht, aber das ist nur bedingt filmtauglich.
Erst 2025 fand der Regisseur Francis Lawrence im Bund mit dem Drehbuchautor J. T. Molner einen Zugang zu dem Stoff. (Dass Lawrence vier Filme der thematisch ähnlich gelagerten „Tribute-von-Panem“-Serie inszeniert hatte, war sicher hilfreich.) Das Ergebnis überzeugte die Kritik, die besonders misstrauisch auf jede King-Verfilmung reagiert. (Noch) wenig bekannte, aber fähige Schauspieler (sowie Mark Hamill als „Major“) transportieren eine Dystopie, deren Botschaft in einer aktuellen Ära der Umbrüche zeitlos wirkt. (Frauen dürfen allerdings wie im Roman nicht mitmarschieren.)
Fazit:
Moderner Klassiker eines Horrors, der ausschließlich durch Menschen verantwortet wird. Symbolisch werden jugendliche Verblendung und staatlicher Missbrauch als simple, aber spannende und emotional buchstäblich fesselnde, weil keinerlei Ab- und Auswege bietende Geschichte erzählt.

Stephen King, Heyne


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