Warday: Kriegstag und die Reise danach
- Piper
- Erschienen: Januar 1984
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Kleiner Krieg mit monumentalen Folgen
Am 28. Oktober 1988 führte eine Kettenreaktion von Missverständnissen zum Ausbruch eines Atomkriegs zwischen den USA und der UdSSR. Aufgrund des Versagens der Technik dauerte er nur eine halbe Stunde, und da man in Europa die US-Raketenstellungen besetzte, fielen dort keine sowjetischen Vergeltungs-Atombomben. Der Krieg blieb auf die beiden Weltmächte beschränkt, die seither nicht mehr existieren.
Nach Treffern an der Ostküste, im Mittleren Westen und im Süden ist die US-Zentralregierung zusammengebrochen. Fünf Jahre nach Kriegsende kämpft man noch immer gegen die atomare Verseuchung, Hunger und Mangelkrankheiten. Die nur noch nominellen USA hängen am Tropf vor allem Großbritanniens. Das ehemalige Mutterland verwaltet einen bürgerkriegsähnlich zerfallenen Staatenbund.
In Dallas beschließen die aus dem zerstörten New York geflüchteten Schriftsteller Whitley Strieber und James Kunetka eine Reise durch ihr verheertes Heimatland. Sie wollen sich selbst ein Bild vom Alltag nach dem Atomkrieg machen. Vermutungen, Gerüchte und Falschmeldungen lassen eine solche Bestandsaufnahme wichtig genug erscheinen, um die Strapazen einer solchen, sehr gefährlichen Fahrt zu rechtfertigen.
Strieber und Kunetka wagen sich nicht nur dorthin, wo die Bomben gewaltige Krater in die Erde gerissen und diese mit tödlicher Strahlung getränkt haben. Sie reisen auch in nicht direkt kriegsbetroffene Regionen, die durch radioaktive Niederschläge, Flüchtlingsströme und Seuchen dennoch mit in den Untergang gerissen wurden. Die beiden Männer erleben drakonische Maßnahmen überforderter Ordnungskräfte und das weiterhin andauernde Massensterben; sie schleichen sich in das totalitär die eigenen Ressourcen abschirmende Kalifornien ein, erleben hautnah Gewalt, Anarchie und Rücksichtslosigkeit, finden aber auch ermutigende Anzeichen für einen Neubeginn …
Die erschreckende Aktualität eines vergessenen Bestsellers
In den 1980er Jahren drohte der „Kalte Krieg“ zwischen den Supermächten USA und UdSSR einmal mehr ‚heiß‘ zu werden. Die Genfer Abrüstungsverhandlungen waren im Herbst 1982 gescheitert. Mit Atomsprengköpfen bestückte US-Mittelstreckenraketen sollten in Mitteleuropa stationiert und gegen die Sowjetunion gerichtet werden. Ein ausbrechender Atomkrieg hätte diese Region in eine radioaktive Wüste verwandelt, was zur Entstehung einer Friedensbewegung führte, der das Autoren-Duo Strieber & Kunetka zutraut, dem hier geschilderten Stellvertreterkrieg ein Ende zu machen, bevor er wirklich ausbrechen kann.
Dass die UdSSR am Ende ihrer militärischen Kräfte war, wusste oder vermutete man im Westen. Ein in die Enge getriebener Gegner greift womöglich an, wenn er keinen Ausweg mehr sieht. Diese Furcht grassierte weltweit dort, wo man diesen Krieg um jeden Preis vermeiden wollte. Sie schlug sich auch in der zeitgenössischen Kultur nieder: In den 1980er Jahren entstanden einige eindringliche Anti-Atomkrieg-Warnungen. Vor allem im Film sorgten sie für Deutlichkeit in so bisher seltener Drastik. Während „WarGames - Kriegsspiele“ (1983) noch sehr hollywoodlastig, aber doch deutlich das Thema eines ‚versehentlich‘ ausgelösten Weltkriegs behandelte, brachte „The Day After - Der Tag danach“ (1983) den Untergang über Durchschnitts-Amerikaner, die grässliche Tode sterben, weil sich die Ankündigung der Regierung, man könne einen Atomkrieg begrenzen und überleben, als Propaganda entpuppt. Kammerspielartig hieb der Animationsfilm „When the Wind Blows“ (1986; dt. „Wenn der Wind weht“) ähnlich aufrüttelnd in dieselbe Kerbe.
In die Reihe dieser Werke gehört „War Day - Kriegstag“. 1984 taten sich die Journalisten/Schriftsteller Whitley Strieber und James Kunetka zusammen. Sie sammelten und bündelten Informationen, Pläne und Maßnahmen, die seitens der US-Regierung, des Militärs und der Verwaltung in Hinblick auf einen Atomkrieg kursierten bzw. angedacht waren. Durch Geheimhaltung entstandene Lücken füllten sie durch eigene Ideen, wobei sich nachträglich herausstellte, dass sie der Wahrheit sehr nahe kamen.
Das Ende der US-Herrlichkeit
„War Day“ ist ein Roman im Gewand eines fiktiven Tatsachenberichts. Der Atomkrieg hat als Prämisse stattgefunden. Er war nicht global, sodass dieser ‚Bericht‘ überhaupt geschrieben werden kann, sondern traf ‚nur‘ die Verursacher USA und UdSSR, wobei sich die Bombeneinschläge auf bestimmte Zielregionen beschränkte. Die USA wurden nicht zur unbewohnbaren, verseuchten Wüste. Dennoch fand das mehrheitlich bequeme Leben als Bürger einer Supermacht ein abruptes Ende: „War Day“ beschreibt zwar auch die unmittelbaren Auswirkungen einer Attacke, die Millionen Menschenleben kostete, konzentriert sich aber vor allem auf die langfristigen Folgen.
Die USA als Bettelkind, abhängig und beherrscht aus dem Ausland, in sich zerstritten, machtlos und von Hunger, Krankheit und Armut gebeutelt: Neben den Zerstörungen, die der Krieg verursachte, ist es sicherlich dieses Bild, mit dem Strieber & Kunetka für Schrecken sorgten. Das Hemd ist gerade in den USA den Bürgern näher als die Jacke. Während gern eine aus Pioniergeist geborene Solidarität beschworen wird, gehen die Autoren davon aus, dass diese sich unter Druck in Luft auflösen wird. Ja, es gibt Amerikaner, die zusammenhalten, helfen und wieder aufbauen, doch gleichzeitig herrscht ein verzerrter Darwinismus, der diejenigen, die verschont blieben, dazu treibt, sich von den Opfern des Kriegs abzuschotten. Sie wollen nicht teilen und sind bereit, ihre Ressourcen mit Gewalt zu schützen.
So viele Jahre nach dem Erscheinen dieses Romans erstaunt, erschreckt und deprimiert die Darstellung von Entwicklungen, die sich auch ohne Atomkrieg realisiert haben. Es liegt wohl vor allem an einer Weltlage, die an die Situation des „Kalten Kriegs“ erinnert: Die Ära des globalen Handels und einer grenzüberschreitenden politischen Zusammenarbeit ist vorüber. Autokratische Regime haben sie aufgekündigt, vor allem Russland gleitet in die alte Rolle des „Schurkenstaates“ zurück.
Die Wucht der Sachlichkeit
Strieber und Kunetka treiben die ‚Realitätsnähe‘ so weit wie möglich. Sie nutzen ihre echten Biografien und treten selbst als Hauptfiguren auf. Reale Familienmitglieder und Autorenkollegen (Chelsea Quinn Yabro, Walter Tevis) sorgen für weitere Informationssplitter, die sich zu einem (manchmal etwas melodramatischen) Gesamtbild fügen.
Immer wieder unterbrechen ‚Dokumente‘ den Erzählfluss: Protokolle, Statistiken, Anweisungen, entstanden noch während oder kurz nach dem Krieg. Kurz und gnadenlos deutlich werden die Opfer geschätzt und Notmaßnahmen in Gang gesetzt, die immer wieder im Euthanasie-Tod jener gipfeln, die von der Strahlenkrankheit, von Seuchen oder vom Hunger so geschwächt sind, dass man auf sie keine knappen Ressourcen mehr ‚verschwenden‘ will.
Hinzu kommen ‚Interviews‘ mit Menschen, die mit bzw. gegen die Krise kämpfen, sich abschotten oder die Gelegenheit nutzen, in einer niedergeworfenen USA Geschäfte zu machen. Die ‚Reise‘ endet in den Ruinen des zerstörten New York - eine Totenstadt, die von wilden Hunden beherrscht und deren Trümmer systematisch geborgen werden, um sie zu recyceln; an einen Wiederaufbau der Stadt denkt niemand. New York City ist Geschichte - ein Bild, das den deprimierenden Höhepunkt darstellt, weil es das Ausmaß der Zerstörung und die Sinnlosigkeit dieses „begrenzten“ Krieges auf den Punkt bringt.
Fazit:
Einst als Mahnung angesichts eines drohenden Atomkriegs entstanden, deuten die Autoren weitsichtig Entwicklungen an, die heute zum Alltag gehören. Betont sachlich geschrieben und mit (fiktiven) ‚Dokumenten‘ ergänzt, ist dieser ‚vergessene‘ Bestseller weiterhin erschreckend/unterhaltsam.
James Kunetka, Whitley Strieber, Piper
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