Ein Fragment des Lebens und andere Erzählungen

  • ‎Independently published
  • Erschienen: Januar 2023
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Ein Fragment des Lebens und andere Erzählungen
Ein Fragment des Lebens und andere Erzählungen
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Michael Drewniok
80°1001

Phantastik-Couch Rezension vonJul 2023

Durchbruch zur Ekstase des Alltags

Manchmal gerät selbst ein erfahrener Rezensent ins Schlingern. In diesem Fall liegt es an der (persönlichen) Schwierigkeit, einem Werk gerecht zu werden, das einerseits ungemein hochqualitativ präsentiert wird, während es andererseits inhaltlich nur unter bestimmten Bedingungen überzeugen kann. Der Versuch soll trotzdem unternommen werden.

Arthur Machen (1863-1947) hat das Glück, in Deutschland nicht nur Leser, sondern auch Herausgeber gefunden zu haben. Der schon zu Lebzeiten ebenso bekannte wie ‚berüchtigte‘ Dichter und Schriftsteller wäre sonst sicherlich längst in Vergessenheit geraten bzw. auf seine ‚echten‘ Gruselgeschichten reduziert geblieben. Stattdessen erleben seine weiteren, weit weniger zugänglichen Erzählungen ihre Wieder- und sogar Erstveröffentlichung: „Ein Fragment des Lebens“ sammelt einen Kurzroman und sieben Kurzgeschichten, die zwischen 1890 und 1904 entstanden; hinzu kommt ein Essay, der Machens Werk in der (Literatur-) Welt verortet.

Dieses Nachwort ist ungeachtet seines ‚akademischen‘ Tonfalls unbedingt erforderlich. Es wird zum Schlüssel, ohne den nicht mit der zeitgenössischen Literaturszene oder Machens Lebens vertraute Leser womöglich keinen Zugang zu den liebevoll edierten und hochwertig übersetzten Erzählungen finden: Machen ist ein ‚anstrengender‘ Autor, das Lektürevergnügen muss man sich erarbeiten. Dies liegt an einer spezifischen, zwar zielgerichteten, aber künstlerisch überhöhten Sprache, die nicht einfach beschreibt, sondern chiffriert. Viele Jahre nach Machens Tod und in einer Ära, die Unterhaltung möglichst leichtgewichtig = ‚allgemeinverständlich‘ serviert, ist es daher schwierig, dem Verfasser zu folgen.

Die Problematik des Ansatzes

Hinzu kommt eine Thematik, auf die sich die Leser einlassen müssen, was heute definitiv schwieriger ist als zu Machens Lebzeiten. Dort galt eine Geschichte wie „Eine doppelte Rückkehr“ als so delikat bzw. frivol, dass Machen von den Herausgebern der Zeitschrift, in der sie erschien, vor die Tür gesetzt wurde. Im 21. Jahrhundert ist dieser Effekt verflogen. Die ‚skandalöse‘ Auflösung teilt sich in ihrer Wirkung höchstens akademisch mit; es liegt durchaus keine Ignoranz darin, sie als bärtigen Witz zu werten, der sich überlebt hat - ein Urteil, das auch „Eine wundervolle Frau“ oder „Joclyns Flucht“ und erst recht „Ein bemerkenswerter Zufall“ und „Das Autophon“ treffen könnte.

Tatsächlich gibt der Herausgeber selbst zu, dass diese und andere Kurzgeschichten aus Machens frühester Schaffensperiode ihre originäre Prägnanz verloren haben. Er mag daraus allerdings nicht den naheliegenden Schluss ziehen, dass sie genau deswegen in früheren deutschen Machen-Sammlungen keine Aufnahme fanden: Sie sind gut geschrieben, aber langweilig.

Was als Ketzerei beklagt werden mag, wird hier mit Absicht formuliert. Nicht nur die Literaturhistorie ist reich an Klagen über ‚Banausen‘, die ‚gute‘ Kunst nicht erkennen können oder wollen. Dem steht die von den Betroffenen oft schamhaft unterdrückte, aber deshalb nicht weniger berechtigte Frage gegenüber: Wieso muss ich schätzen, was (mir) nicht (mehr) gefällt? Mancher Staub bedeckt zu Recht, worauf er gerieselt ist.

Auf der Suche nach dem Publikum

„Das Fragment des Lebens“ ist ein Angebot, das man annehmen kann, aber nicht muss. Wer es versucht, wird durch eine überaus individuelle, interessante und ungewöhnliche Weltsicht belohnt und manchmal doch in den Bann gezogen: Machen kann schreiben, und er hat etwas zu sagen, das ihm so wichtig ist, dass er in seinen Werken immer wieder darum kreist.

„Das Fragment des Lebens“ bringt es auf den Punkt. Machen erzählt die Geschichte eines Mannes, der einem langweiligen Job nachgeht, eine langweilige Ehe führt und seine Freizeit mit langweiligen Diskussionen über Geldanlagen, das Liebesleben des tumben Dienstmädchens und andere Nichtigkeiten vertut.

Eines Tages kommt es zu einem Bruch, der sich zu einem Riss weitet: Edward Darnell erkennt, dass neben der öden Realität eine ‚Parallelwelt‘ existiert. Nach und nach lässt er sich in ihren Bann ziehen, taucht in einen Kosmos naturmystisch-esoterischer, aber auch keltisch-urchristlich geprägter Werte ein, die ihm Trost und Ablenkung bieten. Eine „Epiphanie“ ist die quasi blitzartige Erkenntnis oder besser: Offenbarung eines alternativen Wissens, das hier Darnell einen Ausweg aus einer Sackgassen-Existenz bietet, mit der er sich nun weniger abfindet als arrangiert.

Sehnsucht in einer gefährlichen Zeit

Machen balancierte als Autor oft und gern am Rande des Skandals. Doch das Schicksal seines Autoren-‚Kollegen‘ Oscar Wilde, der diesbezüglich zu weit ging und daraufhin von der Gesellschaft nicht nur geächtet und ausgeschlossen, sondern auch ins Gefängnis geworfen wurde, um nach seiner Entlassung ein elendes Ende zu finden, war ihm eine Warnung. Einige Jahre schrieb er gar nicht mehr bzw. verbarg seine Manuskripte im Schreibtisch und legte sich öffentlich selbst einen Maulkorb an.

Die Tatsache, dass die englische Gesellschaft selbst auf die angedeutete Präsenz einer ‚natürlichen‘, unkontrollierten und unkontrollierbaren Sexualität derart rigoros reagierte, ist spannend und verleiht auch den hier gesammelten Geschichten (vor allem dem Szenenreigen „Ornamente in Jade“) einen Subtext, der heutzutage lächerlich wirken mag, aber eine Realität erfasst, die zu Machens Lebzeiten zumindest die ‚höheren‘ Gesellschaftsschichten dominierte.

Machen wirkt sehr modern, wenn er in „Eine wundervolle Frau“ elegant andeutet, dass auch Frauen eine „Vergangenheit“ haben können. Generell ist (Selbst-) Kontrolle alles und gleichzeitig ein Korsett, aus dem sich die Protagonisten einerseits befreien möchten, aber andererseits die Konsequenzen scheuen („Joclyns Flucht“). Gefühle sind potenziell gefährlich: Als der namenlose Ich-Erzähler einen Ausbruch aus seinem Alltag wagt, wird er prompt überfordert und bricht letztlich gesundheitlich zusammen („Ein Abenteuer im Untergrund“).

Wo bleiben die Gespenster?

Die Freunde des handfesten Grusels seien gewarnt: Machen nähert sich dem Phantastischen aus einer gänzlich anderen Richtung. Er hat durchaus ‚echte‘ Spukgeschichten geschrieben, die jedoch in dieser Sammlung fehlen, da sie bereits veröffentlicht wurden. Stattdessen beschreibt Machen die manchmal erfolgreiche, manchmal scheiternde Suche nach einem alternativen, nicht von Konventionen geprägten bzw. erdrosselten Daseins.

Wird man fündig, kann das Entdeckte gefährlich werden; dies jedoch nicht, weil blutrünstige Monster über einen herfallen. Freiheit ist auch Risiko, weil sie Grenzen auflöst, die unwillkürlich auch als Stützen dienen können. Machen selbst sehnte sich nach einem erlösenden Ausweg, traute seinem Konzept jedoch nicht genug, um sich den Konventionen seiner Zeit (entgegen) zu stellen.

Fazit:

Interessante, aber fordernde Sammlung ‚phantastischer‘ Erzählungen, die das Übernatürliche höchstens streifen bzw. als mythisches Phänomen jenseits durch die Nacht schleichender Spukwesen schildern. Wer sich darauf einlässt, wird diese hochwertige Edition schätzen.

Ein Fragment des Lebens und andere Erzählungen

Arthur Machen, ‎Independently published

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