Gästebuch: Gespenstergeschichten

  • Suhrkamp
  • Erschienen: Oktober 2020
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Michael Drewniok
75°1001

Phantastik-Couch Rezension vonMär 2023

Spuk mit Anspruch - eine Herausforderung

Eine gruselige Geschichte kann auf mannigfaltige Weisen erzählt werden und ihre Wirkung entfalten. Man vergisst dies leicht, weil uns der Schrecken in der Regel simpel und möglichst anschaulich serviert wird. Doch die Angst manifestiert sich sehr viel vehementer, wenn ihr Auslöser nur undeutlich oder womöglich gar nicht erkannt wird. Wie soll man sich gegen ‚etwas‘ wehren, das sich uns nicht zeigen, aber womöglich schaden will?

Leanne Shapton legt keine ‚normalen‘ Gespenstergeschichten vor. Sie kommt von der Grafik und vermag selbst in trivial bedrucktem Geschenkpapier etwas Unheimliches zu entdecken, was sie in dem hier vorgestellten Band unter Beweis stellt (bzw. unter Beweis zu stellen versucht - doch dazu später). Shapton arbeitet gern mit ‚realem‘ Ausgangsmaterial - Fotos, Werbung, Zeichnungen etc., aber auch Texten -, das und die sie aus dem ursprünglichen Zusammenhang reißt und neu arrangiert, sodass eine völlig neue Geschichte entsteht.

In diesem Fall hat sie sich dem Übernatürlichen gewidmet - einem Übernatürlichen, das die Leser und/oder Betrachter selbst erkennen und herausarbeiten müssen. Shapton gibt uns nur vage Hinweise, führt uns scheinbar auf falsche Fährten und belegt auf diese Weise, dass sich das Unheimliche gern in den Schatten oder Falten der Realität verbirgt. Dort muss es entdeckt und entschlüsselt werden.

Die Kunst der Andeutung …

Das ist eine echte Herausforderung, denn während die Künstlerin weiß, welches Garn sie spinnen will, müssen die Leser versuchen ihr zu folgen. Dieser Rezensent gibt offen zu, in vielen Fällen überfordert zu sein. ‚Geschichten‘ wie „Eidolon“, „Der Eisberg aus der Sicht von Augenzeugen“ oder „Chrysantheme, Nelke, Anemone, Fingerhut“ - dies sind willkürlich herausgegriffene Beispiele - ließen ihn ratlos und ein wenig frustriert zurück: Was ‚geschieht‘? Bin ich zu dumm und begreife deshalb nicht, was mir subtil vor Augen geführt wird?

Andererseits tröste ich mich mit der Gegenfrage: Ist da wirklich etwas? Nicht jeder Kunstgriff gelingt, und manchmal fehlt schlicht die entsprechende ‚Antenne‘ für Episoden wie „Wer kommt da“, die ein dramatisch zerknülltes (Gespenster-?) Laken aus unterschiedlichen Perspektiven zeigen. („Quesadilla“ versucht Ähnliches unter Einsatz einer angeschlagenen Kleinskulptur.)

Kunst stellt stets die Betrachter/Zuschauer/Leser auf die Probe. Wahrscheinlich ist sogar die Unsicherheit ein Erfolg - sie ist schließlich das Thema dieses Buches. Natürlich ‚funktioniert‘ die Herausforderung besser, wenn man von vornherein - und ungeachtet des womöglich scheiternden Begreifens - darauf einlässt, dass etwas faul ist, die Bilder sich wie in „Der Traum“ den kommentierenden Unterschriften entziehen und eine beunruhigende zweite Ereignisebene spürbar wird.

… und die Fähigkeit zu erkennen

Die Erkenntnis stellt sich zuverlässiger ein, wenn Shapton wie in „Billy Byron“ oder „Georgehythe Place“ Geschichten mit Hilfe alter und schwarzweißer Fotografien erzählt. Eigentlich belanglose Schnappschüsse werden so mit einer Bedeutung aufgeladen, die sich auch deshalb entfaltet, weil diese Bildfolgen wie das Element einer Dokumentation wirken, von der uns nur ein Ausschnitt präsentiert wird. Wir bemühen uns um Aufklärung - und konstruieren unsere eigene Hintergrundgeschichte, in die wir den ‚Ausschnitt‘ einbetten.

Hin und wieder gelingen Shapton - Achtung: subjektives Urteil des Rezensenten! - Volltreffer: „Ein Geist“ zeigt Bilder, die angeblich während diverser kultureller Veranstaltungen, Cocktail- und „After“-Partys, Dinner zu Ehren verdienter Künstler, Lesungen, Podiumsdiskussionen u. a. entstanden. Sie zeigen stets denselben Gast: Edward Mintz, der sich in seinem scheußlichen, metallic-blauen Anzug unter die Anwesenden mischt - ein ansonsten betont unauffälliger Mann, der die Nichtigkeit dieser Festivitäten einerseits unterstreicht, während seine Anwesenheit gleichzeitig Fragen aufwirft, weil er ausnahmslos am Freitag, dem 2. November 2018, fotografiert wurde.

Absicht und Ziel finden sich - abermals nach Ansicht des Rezensenten - mit der von Shapton (vermutlich) gewünschten Mischung aus Treffsicherheit und Hintergründigkeit in der Story „Sirena de Gali“: Die Fotos zeigen klassische Frauenkleider aus den 1940er bis 1970er Jahren. Sie stammen aus einem (fiktiven) Katalog für Vintage-Kleidung und sind mit „Preisvorschlägen“ versehen. Zwischen diese Bilder mischt Shapton Fotografien verstorbener weiblicher Prominenter. Sie wurden in edlen Gewändern auf einem bestimmten Friedhof bestattet, der wiederholt das Ziel von Grabräubern wurde …

Fazit:

Scheinbar willkürlich ausgewählte und miteinander vermischte Fotos, Zeichnungen und Textpassagen künden von Brüchen in einer Realität, die nicht so ‚stabil‘ ist wie gedacht oder erhofft. Die Autorin/Künstlerin arbeitet mit Andeutungen, die manchmal allzu subtil sind (oder möglicherweise gar nicht existieren), dann jedoch mit der erhofften Nachhaltigkeit ins Schwarze treffen: ein Lektüre-Vergnügen, das erarbeitet werden will, wobei man sich über ein Scheitern nicht ärgern sollte.

Gästebuch: Gespenstergeschichten

Leanne Shapton, Suhrkamp

Gästebuch: Gespenstergeschichten

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