Was die Toten bewegt

  • Cross Cult
  • Erschienen: Mai 2024
  • 1
Was die Toten bewegt
Was die Toten bewegt
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Michael Drewniok
80°1001

Phantastik-Couch Rezension vonSep 2024

Giftiges Pilztreiben im Haus Usher

Einst kämpften Alex Easton und Roderick Usher im selben Krieg, und Rodericks Schwester Madeline war Alex’ beste Freundin. Seit Jahren hat man einander nicht mehr gesehen, als Easton im Jahre 1890 einen Brief erhält, in dem Madeline ihren nahen Tod ankündigt. Daraufhin begibt sich Easton zum Stammsitz der Ushers, der irgendwo in England sowie in einer besonders trostlosen Gegend liegt. Das Haus Usher verfällt buchstäblich, denn Roderick und Madeline verschmachten in vornehmer Armut. Beide sind überrascht, als Easton vor der morschen Tür steht. Dennoch heißen Bruder und Schwester den Freund willkommen.

Beide sind sie von Krankheit, wenn nicht vom Tod gezeichnet. Dies hängt mit der ungesunden Heimstatt zusammen. Innen herrschen Schimmel und Moder, außen wuchern überall giftige Pilze, die ihre stinkenden Sporen in die Luft entlassen. Tiere und Pflanzen weisen gruselige Entstellungen auf, sterben und lösen sich dabei buchstäblich auf; das Haus Usher wird von den wenigen Bewohnern dieser Region sorgfältig gemieden.

Easton will helfen und bemüht sich um eine Erklärung. Was sucht die Ushers heim? Als Soldat glaubt Easton nicht an Spuk, sondern an die moderne Naturwissenschaft. Doch diese ist überfordert mit der Realität: Um das Haus Usher und vor allem innerhalb seiner Mauern Inneren rührt sich eine Kraft, deren unheimliche, das ‚normale‘ Leben imitierende Präsenz längst die Oberhand gewonnen hat ...

Wieder einmal Edgar-Power

In ihrem Nachwort bekennt Autorin T. Kingfisher (alias Ursula Vernon), die kopfstarke Schar derer zu vermehren, die vom Werk des Phantastik-Alt- und -Großmeisters Edgar Allan Poe (1809-1849) fasziniert und für das Genre gewonnen wurde. In ihrem Fall war es vor allem die kurze, aber intensive Erzählung „The Fall of the House of Usher“ (1839; dt. „Der Untergang des Hauses Usher“). Sie ging ihr nicht mehr aus dem Kopf und mündete schließlich in einer eigenen Version des von Poe entfesselten Dramas.

Aus besagtem Nachwort geht außerdem hervor, dass sich Kingfisher darüber ärgerte, von Poe über die Ursache des Untergangs im Ungewissen gelassen zu werden. Die Wirkung der Originalstory speist sich primär aus der Ratlosigkeit des Erzählers, der zwar beschreibt, was er im Haus Usher erlebt, seine Beobachtungen jedoch nur bedingt einordnen und verstehen kann, weil ihm wichtige Fakten unbekannt bleiben. „Der Untergang des Hauses Usher“ lebt ohnehin nicht von der Handlung, sondern von der Stimmung. Poe verarbeitete hier diverse Obsessionen und Ängste ab, unter denen er selbst litt. Dazu gehören die unerfüllte Liebe zu einer Frau und die Angst davor, lebendig begraben zu werden. Als Poe literarisch die Unberechenbarkeit der menschlichen Psyche beschrieb, die unter Druck mit unkalkulierbarer Wirkung zerbricht, war er seiner Zeit weit voraus.

Obwohl dieser Hintergrund manchen Lesern verschlossen blieb, sicherte die fiebrige Wucht des Dramas die Unsterblichkeit der Erzählung. Unzählige Autoren griffen sie auf, variierten und interpretierten sie. Später griffen auch Film und Fernsehen sie dankbar auf. In der Regel konnten die Epigonen nicht mit Poe mithalten. In diese Schar reiht sich auch Kingfisher ein. Das soll kein Vorwurf sein, denn sie spielt mit offenen Karten: In ihrem Hirn rumorte der Drang, eine ‚logische‘ Erklärung für den Wahnsinn im Haus Usher in Worte zu fassen.

Ohnmächtig der osmotischen Macht ausgeliefert

Dass Poes Geschichte keine Auflösung benötigt, wird von Kingfisher ignoriert. Dies ist ihr Recht, da sie als Schriftstellerin die Originalstory aufgreifen darf, die ungeachtet solcher Eigenmächtigkeit (und längst jenseits jenes lästigen Schutzes, den der Begriff „Copyright“ definiert) ja unbeschädigt fortexistiert (und nichts von ihrer Wirkung eingebüßt hat, was Kingfishers Version wohl nicht gelingen wird). Sie spinnt nun ihr eigenes Garn, was an dieser Stelle mit Bedacht so ausgedrückt wird, denn der Horror des Hauses Ushers beruht auf unsichtbaren, aber wirkungsintensiven Fäden, die durch die Luft treiben.

Was genau damit gemeint ist, bleibt hier unerwähnt, um den Lesern, die dieses Werk durchaus verdient, nicht den Spaß zu verderben. Allerdings legt Kingfisher das ‚Rätsel‘ so augenfällig an, dass es dem berüchtigten Hieb mit dem Zaunpfahl gleicht: Wer hinter den Seltsamkeiten steckt, steht schon (zu) früh fest (und wird im Originaltitel quasi vorweggenommen). Dies ist Kingfishers Drang nach einer Auflösung des düsteren Phänomens geschuldet und der Autorin nicht unbedingt als Versagen anzurechnen. „Was die Toten bewegt“ soll eine ‚echte‘ Horrorgeschichte sein und enthüllt deshalb ‚Monster‘ dort, wo Poe auf flüchtigen Wahn setzte. Anders ausgedrückt: Kingfisher bleibt an der Oberfläche.

Auf diesem Niveau funktioniert ihr Garn, obwohl die Frage gestattet sein muss, ob die Verknüpfung mit der Poe-Vorlage so, wie dieser (verseuchte) Hase läuft, überhaupt erforderlich ist. Doch als Schriftsteller muss man an die Vermarktung denken. Sich an Poe anzuhängen, ist eine praktikable Entscheidung. Kingfisher ist beileibe nicht allein auf diese Idee gekommen; erinnert sei an Christina Henry, die sehr erfolgreich Klassiker und Märchen wie „Peter Pan“, „Alice im Wunderland“ oder „Rotkäppchen“ in Serie für ihren Neo-Horror verwurstet.

Pressen, pressen!

Poes „Untergang des Hauses Usher“ ist kurz bzw. genauso lang, wie es der Plot erfordert. Emotional-gruselig geht es zur Sache, dann bricht das Geschehen ab. Kingfisher verfolgt wie gesagt einen ‚realistischen‘ Ansatz. Das erfordert Raum, innerhalb dessen Grenzen die Auflösung plausibel vorbereitet wird. Freilich scheint die Autorin selbst das Geheimnis sabotieren zu wollen. Sie stößt ihre Leser praktisch von Anfang an mit den Nasen dorthin, wo sich die ‚Erklärung‘ eher notdürftig verbirgt; die hübschen Innenillustrationen (die von der Verfasserin persönlich unter ihrem Realnamen angefertigt wurden) lassen erst recht ein Rätsel aufkeimen.

Um jenen Leerlauf zu kaschieren, den das Aufblähen des Usher-Plots über das von Poe geplante Maß hervorruft, sorgt Kingfisher für Insider-Gags, die manchmal durchaus unterhalten, aber insgesamt wenig Handlungsresonanz produzieren. Stattdessen muss die Autorin im nun schon mehrfach erwähnten Nachwort für Aufklärung sorgen, wo sich der Subtext nicht erschließen will. Nie wirklich relevant, sondern pseudo-bedeutsam ist beispielsweise ‚Alex‘ Eastons gallazianische Vorgeschichte als prä-woke Soldatin aus einem europäischen Operettenstaat. Dass die immer wieder auftauchende und Pilz-Weisheiten verkündende Amateur-Biologin Potter eine Tante der Kinderbuch-Autorin und Zeichnerin Beatrix Potter (1866-1943) ist, bleibt ebenfalls ein sinnfreier Einfall.

Ein Lob verdient die deutsche Ausgabe dieses Buches. Das relativ seitenarme Bändchen ist nicht gerade kostengünstig, aber fest gebunden sowie aufwändig und hübsch gestaltet, dazu illustriert und in einer schönen Schrifttype gedruckt, die den nostalgischen Charme dieser inhaltlich wie stilistisch niemals raffinierten, aber auf dem Niveau einer ‚logischen‘ Nach- bzw. Neuerzählung unterhaltsamen Gruselmär unterstreicht.

Fazit:

Stringent ablaufendes und durch eine ‚schockierende Erklärung‘ gekrönte Nacherzählung eines Phantastik-Klassikers, der auch diese ebenso charmante wie dreiste Aneignung überleben wird, zumal die Autorin die Story nicht breittritt: Hier wurde ein kopiertaugliches Konzept entwickelt, das aufgrund seines Erfolgs von der Autorin erneut aufgegriffen wurde.

Was die Toten bewegt

T. Kingfisher, Cross Cult

Was die Toten bewegt

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