Evolution

  • Heyne
  • Erschienen: Januar 2004
  • 6
Evolution
Evolution
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Michael Drewniok
85°1001

Phantastik-Couch Rezension vonAug 2006

Das Leben findet stets (s)einen Weg

Vor 65 Millionen Jahren besetzen die Dinosaurier fast jede ökologische Nische der urzeitlichen Erde. Für die Säugetiere bleiben nur Schlupfwinkel im Schatten der Riesen; kein Wunder, dass sie kaum Mausgröße erreichen. Aber weil sich ihr kleines Leben hauptsächlich unter der Erde abspielt, bleiben sie verschont, als ein gigantischer Komet auf der Erde einschlägt und die Herrschaft der Saurier abrupt beendet.

In den nächsten Jahrmillionen machen sich die Säugetiere die Welt, die nun ihnen gehört, untertan. Sie nehmen an Artenzahl und Größe zu. Bei einigen Arten beginnt vor allem das Gehirn zu wachsen. Aus Affen werden Menschenaffen. Viele Sackgassen und Rückschläge später keimt in schwellenden Schädeln echte Intelligenz: Der Mensch erscheint. Er steigt von den Bäumen und zieht hinaus in die Welt. Nicht einmal Eiszeiten können ihn stoppen, höchstens bremsen. Es wird Äonen dauern, in denen er sich ständig weiter verändert und entwickelt, aber dann hat er jeden möglichen und später auch unmöglichen Lebensraum für sich erobert.

Mit dem geistigen und technischen Aufschwung werden Schattenseiten offenbar. Krieg um Ressourcen oder um Macht, Seuchen, religiöser Wahn, Umweltverschmutzung und -zerstörung: Die Palette ist breit und wächst ständig, während der Fortschritt scheinbar unaufhaltsam fortschreitet. Aber in der unermesslich langen Erdgeschichte stellt der Mensch, der schließlich ins All vordringt, trotz seiner Intelligenz nur eine Episode dar. Er hält sich nicht annähernd so lange wie die Dinosaurier, sondern wird (unter tatkräftiger Eigenbeteiligung) von ´seinem' Planeten getilgt: ein in der Evolution normaler Vorgang, die sich auch ohne den Menschen fortsetzt und der Erde neue Bewohner schenkt, die sich ebenfalls um ihren Platz an der Sonne bemühen ...

Es geht nicht unbedingt voran aber immer weiter

Schon seit Jahren legt es der Schriftsteller Stephen Baxter offenbar darauf an, bereits optisch zu belegen, dass sein schriftstellerischer Atem äonenweit reicht. Wo frühen SF-Kollegen wie Olaf Stapledon noch 250 oder 300 Seiten genügten, um Geschichte/n zu entwerfen, die sogar Milliarden Jahre in die Zukunft wiesen ("Last and First Men", 1930 und "Star Maker", 1937), wuchtete Baxter die monumentale "Manifold-" (dt. "Multiversum-") Trilogie ("Time", "Space", Origin"; 1999-2001, dt. "Zeit", "Raum", "Ursprung", ebenfalls bei Heyne erschienen) in die Buchläden. Ausladende Endzeit-Sequenzen präsentierte Baxter außerdem in "Time Ships" (1995; dt. "Zeitschiffe"). Titel wie "Proxima" (2013) und "Ultima" (2014) belegen, dass Baxter seine kosmischen Untergangs-Phantasien keineswegs aufgegeben hat.

Das Konzept ist also nicht neu. Überhaupt ist Evolution keine Offenbarung in Sachen Originalität. Die schiere Wucht des Werkes überrumpelt den Leser zunächst oder erschreckt ihn womöglich. Bei näherer Betrachtung stellt sich heraus, dass Baxter auch nur mit Wasser kocht bzw. Tinte schreibt. Das soll kein Vorwurf sein, denn der Verfasser geht von einer klugen Prämisse aus: Evolution ist ein kompliziertes Thema, für das sich der Leser interessiert, von dem er sich jedoch möglicherweise intellektuell überfordert fühlt.

Die Evolution ist in der Tat im Detail schwierig, aber ihre Mechanismen leuchten ein, wenn sie mit Worten beschrieben werden, die der Laie versteht. Über dieses seltene Talent verfügt Baxter. Er hat sich auf diversen naturwissenschaftlichen Fachgebieten getummelt (Biologie, Geologie, Geografie, Klimatologie, Paläontologie etc.), viel gelesen sowie Spezialisten befragt. Das Ergebnis ist keine (ohnehin bereits wieder veraltete) Momentaufnahme des gegenwärtigen Wissenstandes in Sachen Evolution. Dies übersteigt seine Kompetenz, lag aber auch nie in Baxters Absicht: Im Nachwort weist er darauf hin, dass Evolution ein Roman und kein Sachbuch ist. (In einem weiteren, exklusiv für die Neuausgabe von 2013 entstandenen Nachwort rezipiert Uwe Neuhold Evolution und seine Bedeutung für die moderne Science Fiction.)

Mit langem Atem für Spannung sorgen

Somit hat sich Baxter ein umso schwierigeres Projekt vorgenommen: Nicht rasch sich abspielende, von Gefühlen beflügelte, im Zwischenmenschlichen wurzelnde Ereignisse bilden die Basis seiner Geschichte. Eine mächtige aber blinde oder neutrale und seeehr langsam wirkende Kraft bestimmt das Geschehen: die Evolution eben. Sie legt den Rahmen fest, in dem sich Baxters Figuren bewegen.

Der Verfasser verfügt über den notwendigen Atem, seine Geschichte über 1000 Seiten zu tragen. Dabei ist Evolution nicht nur langsam: Ihr ´Unterhaltungswert' scheint auch sonst begrenzt. Es gibt keine zielgerichtete Evolution, die sich von Punkt A (= 65 Mio. Jahre in der Vergangenheit) bis Punkt Z (= 550 Mio. Jahre in der Zukunft) erstreckt und damit eine typische Handlung vorgeben könnte. Evolution ist nach Baxter die endlose und endlos variierte Wiederholung bestimmter Prozesse.

Daran hält er sich und konstruiert keine imaginäre außer- oder überirdische Macht, die in der gewählten Zeitspanne die Erde im Auge behält. Das zwingt ihn dazu, den roten Faden als Sicherheitsleine aufzugeben. Evolution ist eine Kette kaum verbundener Episoden, die durch eine im Jahre 2031 spielende Rahmenhandlung mehr schlecht als recht verklammert werden. In Vergangenheit, (relativer) Gegenwart und Zukunft zeigt Baxter immer wieder die Evolution bei ihrer unermüdlichen, immer wieder neu einsetzenden Arbeit.

Vergessene Winkel der Erdgeschichte

Gewaltige Kapitel der Erdgeschichte werden personifiziert, an Identifikationsfiguren festgemacht, die der allwissende Erzähler ein Stück auf ihrem Lebensweg begleitet. Immer steht eine besonders dramatische Episode im Mittelpunkt. Baxter konzentriert sich auf die nie dokumentierten Sternstunden der Evolution. Das ist legitim, gilt es doch die Aufmerksamkeit des Zuschauers (hier: Lesers) zu fesseln. Es kann aber auch Unbehagen wecken, wenn Baxter seinen Tierfiguren Namen wie "Purga" oder "Plesi" gibt und ihnen menschliche Züge aufprägt. Das ist dichterische Freiheit, die aber übertrieben wirkt, wenn wir z. B. einen vor Kummer buchstäblich wahnsinnig gewordenen Saurier auf der Jagd nach Eier raubenden Mini-Säugern erleben.

Grenzen sind dazu da, überschritten zu werden. Baxter wäre kein Schriftsteller, würde er sich nicht immer wieder vom Konzept des möglichst Realistischen lösen. Die Erdgeschichte ist relativ schwach durch Fakten belegt. Gigantische Lücken klaffen in der Chronologie. Hier platziert der Autor Episoden, die eindeutig fiktiv sind: Da segeln zeppelingroße Flugsaurier satellitengleich über die urzeitliche Erde, jagen intelligente Kleinsaurier mit Sprache und Werkzeug ihre großen, dummen Vettern, wird die Antarktis von bizarren Polar-Echsen bevölkert. So könnte es gewesen sein, und war dem nicht so, dann ist es wenigstens gut erfunden.

Einige kritische Worte zur Episodenstruktur: Evolution ist ein seitenstarkes Buch, wie es heute (nicht nur) im SF-Genre üblich ist. Ideen werden weniger entwickelt als breit getreten. Auch "Evolution" weist viel Leerlauf und Längen auf. Der modulare Aufbau würde es möglich machen, problemlos weitere Kapitel einzuklinken. Wieso keine Evolutions-Episode, die vor 40 Mio., vor zwei Mio., in 50 Mio. Jahren spielt? Ein Aufhänger ließe sich bestimmt finden. Auf der anderen Seite wäre es ebenso möglich, ganze Kapitel zu streichen, ohne die Geschichte dadurch zu schädigen.

Nicht viel wirklich Neues unter der Sonne

Baxter beschränkt sich in Evolution nicht auf die Darstellung naturwissenschaftlicher Prozesse und Phänomene. Er versucht sich auch an Erklärungen für die Entstehung von Politik, Handel, Religion. Die lesen sich zumindest spannend, überzeugen aber nicht zwangsläufig. Baxter wertet außerdem und legt dabei nicht immer Objektivität an den Tag. Allerdings ist seine Aufgabe schwer; ein ständiges Balancieren zwischen Wissenschaft und Unterhaltung, zwischen Interpolation und Seifenoper, zwischen hehrer Vorstellung und womöglich profaner Urzeit-Realität.

Schenkt man Baxter Glauben, dann sind Beziehungskrisen, Ärger mit dem Chef oder Kindersorgen geradezu universell. Ob Proto-Maus, Affenmensch oder Endzeit-Erdling: Sie alle schlagen sich mit sehr bekannten Alltagsproblemen herum, auch wenn sich deren Rahmen ändern. Im Lauf der Zeiten entwickelt sich primär die Technik aber nicht das Denken. Es bleibt US-amerikanisch, Stand ca. 2000 n. Chr. Das wird vor allem deutlich, wenn Baxter seine Protagonisten sprechen lässt. Baxters Schnappschuss vom Zusammenbruch des (west-) römischen Imperiums ist deshalb nicht nur aus Historikersicht ein bisschen zu viel des Schlechten.

Das Wissen, der Spaß & der liebe Gott

Ist dieses Buch unterhaltsam? An dieser Frage werden sich die Geister scheiden. Evolution ist trotz seiner nur scheinbar komplexen Struktur kein anspruchsloser Roman, Action ist Baxters Sache nicht. Seine Liebe gilt dem Detail. Viele Seiten kann der Verfasser der Erfindung der Feuersteinaxt widmen, der Frage, wie die Religion in unsere Welt gekommen sein könnte, warum Krieg ursprünglich sinnvoll war. Solche gedanklichen Spiele (und viel mehr ist es oft nicht) mögen manchem Space-Opera- oder Military-SF-Fan zu abgehoben erscheinen. Wer sich jedoch seine Gedanken über Gott & die Welt und ihre Bewohner zu machen pflegt, wird Evolution zu Recht spannend finden.

Ganz zum Schluss fällt sie dann doch: die Frage, wie Gott eigentlich in die Evolution passt. Baxter drückt sich nicht um diese Debatte. Die entsprechenden Passagen erstaunen freilich. Musste sie der Autor für den amerikanischen Markt schreiben? Evolution ist in den USA kein Wort, das unbedingt gern gehört wird. Baxter, der 1000 Seiten darauf verwendet hat, die Entwicklung des Lebens als entschlossene, aber letztlich blinde Macht darzustellen, ringt sich einige kaum überzeugende Zeilen ab, dass es letztlich doch eine überirdische Macht geben könnte, die hinter dem Ganzen steckt, auch wenn sie sich selten einmischt. Sicher ist offenbar sicher ...

Evolution

Stephen Baxter, Heyne

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