Gefährlicher Tunnel durch Raum und Zeit
Schon im frühen 18. Jahrhundert war das holländische Schiff „Orakel“ nach Ansicht der meisten Zeitgenossen verflucht, denn es wurde mit Pestkranken beladen, die man auf hoher See über Bord warf. Kurz darauf verschwand die „Orakel“ mit Mann und Maus während eines Sturms, und man deckte den Mantel des Schweigens über die furchtbaren Ereignisse.
Drei Jahrhunderte später ist die „Orakel“ wieder da: Sie steht aufrecht in einem Tulpenfeld nahe der niederländischen Küste. Doch in den Medien wird das mysteriöse Ereignis unterschlagen. Geheimdienstorganisationen aus den Niederlanden und den USA haben dies veranlasst, weil die „Orakel“ ein gefährliches Geheimnis birgt: Wer durch eine bestimmte Luke das Innere des Schiffes betritt, wird nicht mehr gesehen.
Bis der Zugang gesperrt wird, sind diverse allzu neugierige Anwohner und Polizisten dem Portal zum Opfer gefallen. Einige von ihnen kehren später zurück - schrecklich entstellt und keine Menschen mehr. Die untoten Kreaturen outen sich als Botschafter einer uralten, im Meer hausenden Intelligenz, die seit Äonen Menschenopfer fordert. Werden ihr diese verweigert, brechen Sturmfluten über die Nordseeküsten herein. Angesichts der dichten Besiedlung wäre dies eine Katastrophe.
Die alte Macht hat einen Gegenspieler, der sich auf die Seite der Menschen schlägt. Eine kleine, sehr gemischte und eigentlich machtlose Gruppe schart sich um den jungen Luca. Durch ihn spricht die freundliche Entität. Der Widerstand fordert jedoch seinen Preis, und die Gruppe schmilzt zusammen, während der Feind triumphiert ...
Unsere Welt und ihre unheimlichen Nischen
Einst lebten die Menschen (bzw. unsere Vorfahren) ganz selbstverständlich in einer Welt, die sie sich mit seltsamen, mächtigen Kräften und Wesen teilten, denen man entweder aus dem Weg gehen oder sie besänftigen musste. In unserer aufgeklärten Gegenwart können wir erklären, welche natürlichen Phänomene unverstanden blieben und metaphysisch entschlüsselt wurden.
Die Erinnerung an diese Vergangenheit hat sich vor allem in den unterhaltenden Medien (sowie bei Spinnern) erhalten. Wir fürchten uns nicht mehr vor Feen, Trollen oder Erdgeistern, zumal diese ohnehin nur ‚gefiltert‘ über Mythen und Märchen auf und über uns gekommen sind. Nun lassen wir uns mit voller Absicht von ihnen ‚erschrecken‘, wobei diese ‚Angst‘ dem Vergnügen zuzuschlagen ist: Wir gruseln uns gern, wenn wir uns in Sicherheit wissen.
Dass Mutter Erde womöglich lebt (und denkt) oder Mächte, entstanden im Chaos nach dem Urknall, bis heute den Kosmos, diverse Planeten und eben auch die Erde ‚bevölkern‘, wurde kongenial von H. P. Lovecraft (1890-1937) in seinem Cthulhu-Mythos auf den Punkt gebracht. Thomas Olde Heuvelt orientiert sich eher locker an diesem Konzept, sondern greift eher auf Autoren wie Algernon Blackwood (1869-1951) zurück, die eine nicht nur lebendige, sondern auch beseelte und bewusst handelnde Natur beschrieben. Sie wird in der modernen Gegenwart zwar nicht mehr erkannt oder gar verehrt, ist aber durchaus noch existent und kann sich nachdrücklich in Erinnerung bringen.
Zwischen Land und Meer
Heuvelt stammt aus den Niederlanden, und dieses Mal greift er auf sein Heimatland als Ort des Geschehens zurück bzw. dessen durch die Nähe zum Meer geprägte Historie auf. Das Böse fühlt sich überall zu Hause, und dank der Globalisierung muss es sich nicht mehr auf die ‚klassischen‘ Gruselstätten beschränken, die lange vor allem in England oder den USA verortet waren. Das schließt sehr reale Manifestationen der Furcht ein; hier sind es die unkontrollierten, brachiallegalisierten Machenschaften von Geheimdiensten, die ihre Kompetenzgrenzen längst gesprengt haben. Heuvelt beschwört George Orwell und dessen Schlüsselroman „1984“, wenn er die Schergen solcher Geheimdienste „im Dienst der guten Sache“ quasi nach Belieben agieren lässt, wobei Menschenrechte buchstäblich mit Füßen getreten werden.
Die Brutalität dieser Organisationen kann es mit dem Urbösen aus der Vergangenheit aufnehmen - ein Dualismus, den Heuvelt immer wieder deutlich macht. Die Vorfahren mögen ihre hilflosen Pestkranken ertränkt haben, doch ihre Nachfahren sind in keiner Weise zivilisierter. Die Weigerung, angemaßte Macht zu hinterfragen, sorgt für eine zusätzliche Ebene lebensgefährlicher Herausforderungen, der sich - hier ist der Plot typisch - die üblichen Außenseiter stellen müssen.
Heuvelt gibt sich viel Mühe, uns eine breit gefächerte Protagonistenschar vorzustellen. Die Hauptperson ist ein pubertierender Junge, der - wiederum typisch - wider Willen in eine zentrale Rolle gedrängt wird. Zu den üblichen Problemen mit den Eltern, der kleinen Schwester, den Lehrern, den Freunden und den Mädchen gesellen sich skrupellose und/oder karrieregeile Geheimdienstler, Terroristen, Algen-Zombies und zwei verfeindete ‚Götter‘ von Vorgestern. Man ist skeptisch, wenn nicht gerade Stephen King Jugendliche ins Zentrum stellt; er kann das, was ein recht seltenes Talent erfordert. Heuvelt gibt sich Mühe, doch ihm gelingt es nicht immer, einschlägige Klischees zu umschiffen.
Niemand ist sicher
Das (zunächst) kopfstarke (aber später meist brutal ausgedünnte) Feld der handelnden Personen bleibt oberflächlicher, wobei höhere Tiefenschärfe in den meisten Fällen gar nicht erforderlich ist. Ungeachtet seinen Seitenstärke ist „Orakel“ ein temporeicher Roman, in dem sich Heuvelt auf bewährte Profilmuster stützt. Eine Ausnahme gibt es: Der Autor zeigt sich in einem Nachwort selbst überrascht über das Auftauchen eines alten Bekannten: Robert Grim, der ‚Spezialist‘ für das Okkulte, ist ein Überlebender jener übernatürlichen Katastrophe, die Heuvelt in „Hex“ (2013), seinem ersten ins Deutsche übersetzten Roman, geschildert hatte. Der Epilog lässt Grim an den Ort der Tragödie zurückkehren; dies mag eine entsprechende Fortsetzung andeuten.
Die Handlung ist einerseits simpel, aber gleichzeitig komplex. Heuvelt bemüht sich um Abwechslung, springt zwischen interessanten Orten und aufregenden Ereignissen hin und her. Dass der Plot über weite Strecken an die über „Amazon Prime Video“ zu streamende Serie „The Rig“ erinnert, dürfte Zufall sein. Weil die Wahl des ‚Monsters‘ in beiden Fällen auf eine wässrige Elementarmacht gefallen ist, kommt es jedoch zu bemerkenswerten Übereinstimmungen. Heuvelt gibt seiner Konfrontation zwischen Mensch und Macht eine zusätzliche, ebenfalls genreübliche Note, indem er letztere in eine ‚böse‘ und eine ‚gute‘ Partei teilt.
Mit dem Vorgängerroman „November“ kann „Orakel“ nicht ganz mithalten. Es fehlt die klare Orientierung an einem roten Faden, Heuvelt öffnet viele Baustellen, die sich manchmal schwer ins überfrachtete Gesamtbild fügen wollen. Hinzu kommen Ereignisstränge /wie der Auftritt arabischer Meuchelmörder auf Groschenroman-Niveau), die sowohl überflüssig sind als sich auch irgendwann verläppern. Nichtsdestotrotz bietet „Orakel“ im positiven Sinne vordergründigen, weil abwechslungsreichen Mystery-Horror.
Fazit:
Spannend erzählter Roman, der den eigentlich simplen Plot so einfallsreich aufbereitet, dass er die Spannung über 650 Seiten aufrecht hält. Nicht alle dem Genre eigenen Klischees können vermieden werden, doch insgesamt stimmt die Balance zwischen Story und Figurenzeichnung: Der klassisch erzählte, auf den Plot konzentrierte Horror ist glücklicherweise noch lebendig.

Thomas Olde Heuvelt, Heyne
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