I.N.R.I. oder die Reise mit der Zeitmaschine

  • Schröder
  • Erschienen: Januar 1972
  • 2
I.N.R.I. oder die Reise mit der Zeitmaschine
I.N.R.I. oder die Reise mit der Zeitmaschine
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S.B. Tenz
96°1001

Phantastik-Couch Rezension vonAug 2006

Die Bibel auf den Kopf gestellt

War Jesus von Nazareth lediglich ein Unruhestifter, der einen Aufstand gegen die Römer organisiert hat? Wollte er Jerusalem mit einer bewaffneten Bande erstürmen? In seinem 1969 erschienenen Roman "I.N.R.I. oder Die Reise mit der Zeitmaschine" stellt Michael Moorcock diese Fragen. Ein provozierender Roman, der seinerzeit für heftige Reaktionen sorgte. Nun endlich liegt sein Werk in einer komplett neuen Übersetzung vor und stellt unter Beweis, wie zeitlos gute Literatur sein kann.

Karl Glogauer, der ewige Verlierer. Sohn einer von Neurosen geplagten Mutter und eines egoistischen Vaters, den er seit seinem fünften Lebensjahr nie wieder gesehen hat. Orientierungslos und ständig auf der Suche nach dem Sinn des Lebens sieht er sich einem perspektivlosen Schicksal ausgeliefert. Missbrauch durch Priester und Betreuer prägen ihn in frühester Kindheit. Schläge und antisemitische Anfeindungen werden für ihn aufgrund seiner jüdischen Herkunft zu etwas alltäglichem. Er flüchtet sich in quälende Beziehungen, die allesamt scheitern. Karl Glogauer wird zu einem Neurotiker, der sein Verhalten nicht ausreichend kontrollieren kann, was ihn schließlich zu seinem ersten Selbstmordversuch treibt. Aber selbst dieser scheitert. Er wird zu einem glühenden Vertreter der tiefenpsychologischen Thesen C.G. Jungs, ohne dessen analytische Psychologie wirklich zu verstehen. Er verstrickt sich in Widersprüche und scheint alles zu verlieren. Eines Tages begegnet er dem Wissenschaftler Headington, der ihn zu einem unglaublichen Experiment überredet. Karl soll eine Reise antreten, eine Reise zurück in die Vergangenheit mit einer von Headington entwickelten Zeitmaschine. Zunächst skeptisch erkennt Karl die einmalige Chance, dem verhassten 20. Jahrhundert zu entfliehen.

Er reist zurück in das Zeitalter Jesu. Auf der Suche nach Wahrheiten trifft er auf Johannes den Täufer. Als dieser auf die Frage nach Jesus von Nazareth nicht weiß, von wem die Rede ist, scheint Karl Glogauer endgültig den Verstand zu verlieren. Überhaupt scheint es niemanden zu geben, der je von einem Nazarener namens Jesus gehört hat. War oder ist alles nur eine große Lüge?

Die Zeitmaschine nur metaphorisch?

Um es gleich vorweg zu nehmen: I.N.R.I. ist keine Zeitreisegeschichte im herkömmlichen oder klassischen Sinne, wie sie etwa H.G.Wells 1895 in seinem Roman ";Die Zeitmaschine"; erzählte. Wer so etwas erwartet, wird mit Sicherheit sehr schnell enttäuscht sein. Es mag sein, dass die ersten Seiten des Romans dem Leser einen anderen Eindruck vermitteln - Glogauer landet mit der Zeitmaschine in der Vergangenheit - das war es aber auch schon. Der Leser erfährt lediglich, dass es sich bei der Zeitmaschine um eine mit Flüssigkeit gefüllte Kugel handelt, die bei der Landung platzt, wodurch die Flüssigkeit entweicht und der Zeitreisende mit heraus geschwemmt wird. Allein die Tatsache, dass die Kugel bei der Landung zerbricht, lässt vermuten, dass es sich hier nur um ein ";One Way Ticket"; handelt. Was die Technik dieser wundersamen Kugel angeht, bleibt dies Moorcocks Geheimnis. Einige Schalter und eine Konsole, die sich innerhalb der Zeitmaschine befinden, mehr erfährt der Leser nicht. Über die Möglichkeiten, sich überhaupt in der Zeit zurückzubewegen, schweigt der Autor sich aus. Es gibt nicht einmal Ansätze einer Erklärung. Als reine Zeitreisegeschichte ist I.N.R.I. demnach enttäuschend.

Eine Novelle die provoziert

Was also ist I.N.R.I. für ein Roman? Diese Frage ist nicht leicht zu beantworten. Handelt es sich um eine vertrackte Zeitreisegeschichte, die als solche nur enttäuschen kann? Ist es ein Psychogramm eines von Neurosen geplagten ewigen Verlierers? Ein blasphemischer Angriff eines Nihilisten auf das Christentum? Oder ist es, entgegen aller Interpretationsversuche, nur die Geschichte eines Bekloppten mit irren Wahnvorstellungen und der Autor lacht sich am Ende ins Fäustchen über die verschiedenen Interpretationen selbsternannter Analysten?

Wie dem auch sei, I.N.R.I. ist ein großartiger Roman, eine Novelle die provozierend und amüsant zugleich ist. Ein typischer Vertreter des damaligen ";New Wave";. Moorcock verarbeitet und bricht so ziemlich alle Tabus, die in den sechziger Jahren für heftige Reaktionen und Aufregung sorgten. Sexualität, Religion, und Philosophie verschmelzen zu einer geballten Ladung, die so manchen wie eine Faust ins Gesicht getroffen haben dürfte. Viele Passagen des Romans werden mit Sicherheit auch heute noch diesen Effekt erzielen. Als eines der noch harmlosesten Beispiele sei der Missbrauch an dem jungen Karl Glogauer durch einen Priester genannt. Mehr soll an dieser Stelle allerdings nicht verraten werden.

Gewagte Theorien

Michael Moorcocks Theorien sind gewagt, aber keineswegs unvorstellbar. Erklären sich die wundersamen Heilungen Jesu an den Menschen lediglich an einem psychosomatischen Krankheitsbild in einer Zeit, in der vielleicht nur wenige dieses Symptome zu diagnostizieren in der Lage waren, die Krankheit aber selbst immer gegenwärtig war? Hat Jesus dies lange vor Freud oder Jung erkannt und sich dieses Wissen geschickt zu Nutze gemacht? Wenn ja, dann war dies ein genialer Schachzug des Nazareners. Eine Gabe oder nur eiskaltes Kalkül? Diese These dürfte jedenfalls so manchem Theologen (und nicht nur denen) die Haare zu Berge stehen lassen. Antworten auf diese Fragen können sie uns jedoch nicht liefern, ebenso wenig wie es Atheisten, Wissenschaftler oder strenge und bibelfeste Kirchengänger vermögen. Alles was bleibt sind Spekulationen und Theorien.

Michael Moorcock stellt seine eigenen auf, indem er die biblische Geschichte einfach auf den Kopf stellt. Seine Figur des Karl Glogauer muss selbst eine Lüge leben, um die Wahrheit zu erschaffen. Er verändert die Geschichte und ist davon überzeugt, ihr somit mehr Substanz zu verleihen. Es sind die für ihn nicht akzeptablen Argumente, die ihn zu diesem Entschluss treiben. Argumente wie etwa, dass das Christentum auf einer Symbiose aus westlicher Logik und östlicher Mystik basiert oder dass Jesus nur ein Unruhestifter war, ein rebellischer Anführer und Aufwiegler gegen die Römer. Ist es denn nicht eine Tatsache, dass die Religion die grundlegenden Annahmen der Wissenschaft nicht akzeptieren kann und dass es in der Wissenschaft bereits angelegt ist, die grundlegenden Prinzipien der Religion anzugreifen? Die Wissenschaft kann gegenüber der Religion dies jedenfalls mit der Behauptung "Tatsachen sprechen für sich" rechtfertigen. Karl Glogauer jedoch kann und will diese Aussagen nicht akzeptieren oder auch nur in Erwägung ziehen, es wäre sein letzter Halt, der ihm dadurch verloren ginge. Auf seiner Suche nach Wahrheiten in der Vergangenheit stellt er jedoch selbst all das in Frage, was er zu beweisen versucht. Ein Paradoxon. Irgendwann schließt sich der Kreis und Karl Glogauer bleibt das, was er schon immer war: Der ewige Verlierer.

Wo die Wirklichkeit aufhört und die Phantasie beginnt

I.N.R.I. ist sicher nicht der beste Roman, den Michael Moorcock geschrieben hat. Was er jedoch an Intensität und erzählerische Kraft aufweist, ist mehr als beeindruckend. Das Kunststück, einen zeitlosen Roman zu schreiben, ganz besonders innerhalb der phantastischen Literatur, gelingt nicht sehr vielen Autoren. Angestaubt, überholt oder ausgereiztes Thema, keines dieser Schlagwörter trifft bei objektiver Betrachtung auf I.N.R.I. zu. Im Gegenteil. Moorcocks Figur des Karl Glogauer lässt sich so ziemlich in jede Zeitepoche integrieren.

In früheren Zeiten als geistig verwirrt, verrückt oder einfach nur als Spinner abgetan, spricht man heute von einer starken Psychose, unter der Glogauer leidet. Überhaupt scheinen alle Charaktere in I.N.R.I. unter einer Form von Psychose zu leiden. Dabei spielt es keine Rolle, in welcher Zeit der Roman gerade spielt. Ob es sich dabei um die komplette Gefolgschaft Johannes des Täufers handelt oder Pilatus, der ständig und überall eine Verschwörung vermutet, bis hin zu Glogauers Freundinnen, alle haben irgendeine ";Macke";. Von Karl Glogauer selbst ganz zu schweigen. Wo endet die Wirklichkeit? Wo beginnt die Phantasie? Und vor allem, wo endet die Phantasie und die Psychose bricht ein? Ist es am Ende vielleicht so, dass Karl Glogauer niemals in der Zeit zurückgereist ist? War vielleicht alles nur eine Wahnvorstellung eines bemitleidenswerten Menschen, der auf der Suche nach dem Sinn des Lebens das Leben dabei vergisst?  (Man könnte hinter den Titel ";oder die Reise mit der Zeitmaschine"; auch bedenkenlos ein Fragezeichen setzen.) Wie dem auch sei, Moorcocks Geschichte bietet jedenfalls genug Zündstoff für heftige Diskussionen, die man über sein Werk führen kann. Und dies schafft nicht jeder Roman.

Fazit

Ich bin kein Freund von Superlativen, verwende sie äußerst ungern. Michael Moorcocks I.N.R.I. lässt mir jedoch keine andere Wahl. Dieser Roman ist das Ergebnis überdurchschnittlicher Kreativität, Hochleistungsmotivation und Originalität. Kurz: Ein intellektueller Geniestreich. Ein Roman, den man gelesen haben muss, eine Novelle, die zweifellos zu dem besten gehört, was die phantastische Literatur je hervorgebracht hat.

Zeitlos, imposant, intelligent und provozierend. All das auf nur knapp 200 Seiten erzählt. So intensiv, dass der Leser noch sehr lange über diesen Roman nachdenken wird.

Noch etwas: Es soll ja Leser geben, die ein Nachwort vor der eigentlichen Geschichte lesen. Grundsätzlich nichts gegen einzuwenden, aber bei vorliegendem Roman sollte man das tunlichst vermeiden, da ansonsten sehr viel an Atmosphäre verloren geht. Warum das so ist? Das liest man spätestens im Nachwort.

I.N.R.I. oder die Reise mit der Zeitmaschine

Michael Moorcock, Schröder

I.N.R.I. oder die Reise mit der Zeitmaschine

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