Die Ballade von Black Tom (Cemetery Dance Germany SELECT '24 - LOVECRAFTIAN VIBES 4)
- Buchheim Verlag
- Erschienen: Dezember 2024
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Jazzmusik für Cthulhus Brut
Harlem ist in diesem Jahr 1924 der Stadtteil der New York City, in dem die schwarzen Bürger leben. Hier bleiben sie in einer Ära gesetzlich fixierter Rassendiskriminierung unter sich; dass die weißen ‚Mitbürger‘ sich fernhalten, macht die Überbevölkerung und das alltägliche Armutselend beinahe erträglich.
Der junge Charles Thomas „Tommy“ Tester lebt mit seinem kranken Vater Otis in Harlem. Obwohl er dessen Talent nicht geerbt hat, versucht sich Tommy als Musiker. Eigentlich ist sein Instrument vor allem Tarnung für nicht immer legale, aber leidlich einträgliche ‚Geschäfte‘. Als einer seiner ‚Aufträge‘ ihn ins vorwiegend ‚weiße‘ Brooklyn führt, spricht ihn der reiche Robert Suydam an. Er sucht einen Musiker für eine geplante Gesellschaft - ein Vorwand, wie Tommy, der sich über seine Fähigkeiten keine Illusionen macht, sofort weiß.
Da das Honorar hoch ist, lässt er sich darauf ein, obwohl ihn ein Polizist und ein Detektiv warnen: Suydam hat sich dem Okkulten verschrieben und ist einer Sekte beigetreten, die den obskuren ‚Gott‘ Cthulhu verehrt. Dieses uralte, mächtige Wesen soll in der Tiefsee hausen und auf seine Chance warten, die Weltherrschaft anzutreten. Männer wie Suydam unterstützen dies in der Hoffnung auf unendliche Macht als Belohnung für ihre Machenschaften.
Tommy schließt sich ihnen an. Als „Black Tom“ ist er maßgeblich beteiligt, als die Sekte im Hafenviertel Red Hook eine Kultstätte einrichtet. Er besitzt nun übermenschliche Kräfte und räumt aus dem Weg, wer sich Suydam und damit Cthulhu in den Weg stellt; scheinbar, denn insgeheim folgt Tom Tester seinem privaten Racheplan, der sich gegen jene richtet, die ihm und seinem Vater Schaden zugefügt haben ...
Gruselmeister mit dunkler Seite
In der Januar-Ausgabe des auf Horror bzw. „weird fiction“ spezialisierten Pulp-Magazins „Weird Tales“ erschien 1927 die Erzählung „The Horror at Red Hook“ (dt. „Das Grauen von Red Hook“). Verfasst hatte sie Howard Phillips Lovecraft (1890-1937), der als Großmeister des Genres gefeiert, aber auch kritisiert wird: Lovecraft sehen heute viele als Rassisten, der die moderne Großstadt als Höllenpfuhl betrachtete, dessen aus „fremden Ländern“ zugewanderten Bewohner gierig und schamlos einem Alltag jenseits von Gesetz und vor allem Moral frönten.
Wie die meisten Zeitgenossen hatte Lovecraft einen Sündenbock gesucht und gefunden. In seinem Fall reflektierte er einen kurzen, aber für ihn psychisch belastenden Aufenthalt in New York. Das Stadtleben überforderte ihn, und beruflich scheiterte er. Lovecraft kehrte der Metropole den Rücken; was er empfunden haben mag, lässt er in „Das Grauen von Red Hook“ einfließen, wobei er ihm buchstäblich Gestalt verleiht: Der Schrecken resultiert aus dem gottlosen Treiben ‚verdorbener‘ Immigranten, die in der Stadt einen Teufelskult gründen.
(Noch) keine Rolle spielte 1927 Cthulhu, um den Lovecraft später einen Zyklus eindringlicher Kurzromane und Storys schrieb, die das Wirken kosmischer Mächte beschreiben. Die Erde ist nur einer der unzähligen Orte, an denen böse oder besser fremde Mächte dem Menschen nur ansatzweise verständlichen Plänen nachgehen. Hier hakt Victor LaSalle ein, der einerseits den Red-Hook-Plot aufgreift und in den Cthulhu-Kosmos überführt, während er andererseits Lovecrafts Vorurteile - s. o. - als primäre und reale Quelle des Großstadtschreckens offenlegt.
Schachspiel mit zwei Gegnern
An dieser Stelle soll das Für und Wider der Vorwürfe, denen sich der lange verstorbene Lovecraft stellen muss, nicht erörtert werden; über entsprechende Aktivitäten kann man sich im Internet informieren. Was LaSalle antreibt, wird deutlich. Sein Werk widmet er Lovecraft, dies jedoch mit „gemischten Gefühlen“. Er wählt einen Ansatz, der die von Lovecraft buchstäblich verteufelten Unterschichten nicht als Täter, sondern als Opfer zeichnet, die in ihrer Angst und Not vor dem „weißen Mann“ lieber einer außerirdischen Kreatur folgen: Cthulhu ist hautfarbenblind. Dass er abermals nicht die Welt erobern kann, liegt dann nicht an Tom Tester, obwohl der ihn nie wirklich auf und über die Erde kommen lassen will, sondern an Robert Suydam, der in seinem rassistischen Dünkel nicht glauben kann, dass „Black Tom“ ihn und seinen Meister hintergeht.
LaSalle führt uns in das New York von 1924 und in eine Stadt ein, in der man auch ohne kosmischen Spuk ums Überleben kämpfen muss. Während Tommy Tester (noch) Widerstand leistet, hat sein im Alltagskampf vorzeitig zermürbter, zerbrochener Vater aufgegeben. LaSalle konfrontiert Tommy exemplarisch mit den typischen Gefahren und Kränkungen, denen sich ein „Negro“ ausgesetzt sieht. (Da uns der Himmel auf den Kopf fallen würde, wenn wir das „N-Wort“ verwenden, selbst wenn es für eine historische Epoche auflebt, in der es ganz selbstverständlich verwendet wurde, mussten sich Autor und Übersetzer etwas einfallen lassen. Das Ergebnis ist „Negro“, was - Spezialisten werden es uns gern erklären - offenbar ein Wort ist, das die Bosheit des N-Wortes widerspiegelt, aber eben nicht verdammt ist.)
Obwohl LaSalle eine Botschaft hat, hämmert er sie uns nicht mit dem Zaunpfahl ein, sondern nutzt es als Treibriemen seine Geschichte. Dabei nutzt er Schauplätze und Figuren, die Lovecraft eingeführt hat, um auch diese nach eigenen Vorgaben zu verändern. Robert Suydam oder der Polizist Malone werden unter seiner Tastatur zu vielschichtigen Personen, die nicht ausschließlich ‚gut‘ oder ‚böse‘ sind. LaSalles Malone weiß zudem, dass ‚normale‘, angesehene, politisch, finanziell und gesellschaftlich etablierte Bürger ihrer Gier und ihren Leidenschaften keine Zügel anlegen müssen und das Gesetz für ihre Machenschaften instrumentalisiert wird.
Pole des Schreckens
Menschliche Bosheit trifft auf das entfesselte kosmische Grauen: Dies sind die beiden Pole, zwischen denen die Handlung sich bewegt. Dabei lässt sie Ausgewogenheit vermissen. LaSalle ist wesentlich drastischer, wenn er den alltäglichen Rassismus schildert. Die Ungerechtigkeit wirkt bedrückend real, während der übernatürliche Horror nur Horror und damit fiktiv ist. Der Autor versteht es nicht annähernd so gut wie Lovecraft, diesen Aspekt des Geschehens mit Schrecken aufzuladen. Was sich jenseits der gültigen Naturgesetze abspielt, bleibt Effekt.
Dies gilt, obwohl es LaSalle inhaltlich nicht an Drastik und Vehemenz fehlen lässt. Da Lovecraft wie erwähnt Cthulhu nicht auftreten ließ, ist es allein an LaSalle, den typischen Schleim- und Tentakelhorror zu entfesseln, der einen eigenen, sexuellen Kontext besitzt. Lovecraft konnte oder wollte diesen nicht einbeziehen, aber seine Epigonen beharren oft darauf, was für wahrlich körperbetonten Grusel sorgt!
LaSalle weiß hier die Balance zu halten, wo andere Autoren hemmungslos dem Splatter-Porno frönen. Dass die Geschichte von Black Tom trotzdem in einem Höhepunkt gipfelt, der ungeachtet der kolossalen Wucht der Ereignisse nicht mit der bis dato der sorgfältig aufgebauten Story mithalten kann, sondern sich auf traditionellen Wirkungs-Horror beschränkt, raubt ihr trotz der inhaltlichen und formalen Qualitäten Kraft. Womöglich wusste es ausgerechnet Lovecraft besser, dass man nicht auf zu vielen Hochzeiten tanzen und sich auf einen Plot konzentrieren sollte.
Fazit:
Neuinterpretation einer in Verruf geratenen Lovecraft-Erzählung. Was die Kritik vermisst, fügt Autor LaSalle der Story ein, bringt diese dadurch jedoch in eine Schieflage: dennoch eine (auch sprachlich) interessante Variation, die ein fiktives Grauen womöglich auf ein allzu reales Fundament stellt.

Victor LaValle, Buchheim Verlag





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