Die Geisterseher
- Independently published
- Erschienen: Februar 2025
- 0


15-mal unklug hingeschaut
15 angelsächsische Gruselgeschichten der wahrhaft klassischen Art:
- Reinhard Klein-Arendt: Vorwort, S. 5-12
- Thomas Burke: Johnson, blick dich nicht um…! (Johnson Looked Back; 1935), S. 13-22: ... denn du wirst sterben, willst aber keinesfalls sehen, wer (oder was) dein Mörder sein wird.
- Madeline Yale Wynne: Das kleine Zimmer (The Little Room; 1895), S. 23-40: Wer den nur manchmal existierenden Raum zu Gesicht bekommt, findet in der Regel ein baldiges Ende.
- Henry Chapman Mercer: Das Schloss der Puppen (The Doll’s Castle; 1928), S. 41-75: Der Spuk in dem alten Stadthaus war zur Ruhe gekommen, als Neugier ihn mit schrecklichen Folgen aufleben lässt.
- Ernest Favenc: Die Pest des Jahres 1905 (The Pest of the Year 1905; 1898), S. 76-87: Schauerlich kommt die Seuche über Australien und verheert den gesamten Kontinent.
- Edward Frederic Benson: Die Schritte (The Step; 1926), S. 88-107: Der hartherzige Geldverleiher muss erfahren, dass ihn kein Gesetz vor der Vergeltung schützen wird.
- Arabella Kenealy: Das heimgesuchte Kind (The Haunted Child; 1896), S. 108-126: Der Vater tötete einen Menschen, und seine Reue ging auf das ungeborene Kind über, das die alte Schuld nacherleben muss.
- Ulric Daubeny: Der Elementar (The Elemental; 1919), S. 127-149: Was er auf einer Flutwelle reiten sah, erblickte auch ihn und sucht ihn seither in den Nächten heim.
- Thomas Burke: Die Ahnentafeln des Hauses Li (The Tablets of the House Li; 1926), S. 150-163: Die empfangene Hilfe verpflichtet den jungen Chinesen zu einer Rettungsaktion, die ihn sein eigenes Leben kosten wird.
- Henry S. Whitehead: Die schwarze Bestie (The Black Beast; 1931), S. 164-215: Er starb während eines westindischen Voodoo-Zaubers und sucht seither sein ehemaliges Haus heim.
- James Edmond: Die schwindelerregende Geschichte vom hohen Berg und den drei Skeletten (The Precipitous Details of the High Mountain and the Three Skeletons; 1894), S. 216-236: Drei Goldsucher laufen auf einem Berg in eine Falle, der sie nicht mehr entkommen werden.
- Patrick Carleton: Die Residenz des Dr. Horder (Dr. Horder’s Room; 1935), S. 237-253: Er galt als gelehrter und großzügiger Mann, bis das ekelhafte Geheimnis seines langen, langen Lebens enthüllt wird.
- Elinor Mordaunt: „Luz“ („Luz“; 1922), S. 254-279: Aus dem dichten Nebel streckt sich ihr eine helfende Hand entgegen, die sie dann jedoch in eine Kammer voller scharfer Messer zerrt.
- Herbert Russell Wakefield: Die erste Garbe (The First Sheaf; 1940), S. 280-294: In diesem abgelegenen Tal vertraut man nicht auf den Christengott, sondern auf ältere, finstere Mächte.
- Wirt Gerrare: Die geheimnisvolle Maise (Mysterious Maisie; 1895), S. 295-329: Die junge Gesellschafterin gerät in ein einsames Haus und an eine experimentierfreudige Hexe, die sie wie so viele Vorgängerin nicht mehr gehen lassen wird.
- Alice Perrin: Das Tigeramulett (The Tiger-Charm; 1901), S. 330-345: Der Mordversuch am vermeintlichen Nebenbuhler während der Tigerjagd nimmt einen für den Täter unerwarteten Verlauf.
- Originalquellen, S. 346-348
- Kurzbiographien der Autorinnen und Autoren, S. 349-363
Genussvoll verfolgen, wie ‚es‘ Pechvögel erwischt
Freuen wir, die wir den angelsächsischen Grusel klassischer Prägung lieben, uns auf eine neu erscheinende Sammlung solcher Geschichten, stellen wir in der Regel fest, dass man uns abermals mit einer Kollektion zwar durchaus guter, aber bereits x-fach erschienenen Storys abspeisen will. M. R. James, Algernon Blackwood, Arthur Machen, Clark Ashton Smith ... Sie alle sind großartige Erzähler, doch waren sie wirklich die einzigen, die das Handwerk des literarischen Schreckens beherrschten?
Selbstverständlich nicht, weshalb wir umso dankbarer sein dürfen, wenn sich jemand bemüßigt fühlt, diese Lücke zu füllen. Die Herausgeber Reinhard Klein-Arendt und Michael Schmidt gehen dabei über die Grenzen Großbritanniens hinaus und präsentieren auch Gruselgeschichten aus den zahlreichen Kolonien des Königreichs. Indien, Kanada, Nordafrika, Australien: Faktisch gab es keinen Winkel dieser Erde, in dem die Briten nicht vertreten waren. Vor Ort trafen sie auf eine einheimische Bevölkerung, die sie oft verachteten und ausnutzten, aber auch fürchteten, weil sie deren Kulturen nicht verstanden: eine stets sprudelnde Quelle schrecklicher Missverständnisse!
Die große Zeit der britischen „ghost story“ umfasst etwa die Jahre 1890 bis 1940. Ausreißer kommen vor, aber in dem genannten halben Jahrhundert spukte es - aus unserer Rückschau - besonders stimmungsvoll und auf eine betont zurückhaltende Art und Weise, die im etwa zeitgleichen Hoch des Whodunit-Krimis selbst den gewaltsamen Tod geschmackvoll und unterhaltsam wirken ließ. Bei näherer Betrachtung bzw. Ausweitung der Autorenbasis schärft sich im Horror dieses Bild: So belegt diese Sammlung nachdrücklich, dass es schon einst sehr unangenehm zur übernatürlichen Sache gehen konnte!
Warum ‚es‘ dich holen kommt
Vergeltung ist ein festes Element der „ghost story“: Hat jemand zu Lebzeiten großes Unrecht erlitten, versetzt ihn (oder sie) der Tod in die Lage, endlich jene Rache nachzuholen, gegen die sich der durch Status, Reichtum oder Einfluss geschützte Täter zuvor schützen konnte. Am eindeutigsten lässt dies in dieser Sammlung Edward Frederic Benson (1867-1940) seine Hauptfigur spüren, die zudem glaubt, sich im kolonialistisch unterjochten Ausland keine moralischen Zügel anlegen zu müssen und trotzdem ein „gentleman“ bleiben zu können. Ähnlich verkommen benimmt sich bei Alice Perrin (1867-1934) ein Offizier im damals britischen Indien, weshalb eine höhere Macht seine Privilegien aufhebt.
Interessante Variationen dieses Themas bieten Arabella Kenealy (1859-1938) und Thomas Burke (1886-1945). Sie beschreibt eine Schuld, die den eigentlichen Verursacher nicht mehr treffen kann und stattdessen ‚vererbt‘ wird: Die Wucht der Tat ist so groß, dass sie sich quasi verselbstständigt und dort auflebt, wo sie nicht mehr postume Gerechtigkeit, sondern nur noch hilflosen Schmerz erzeugt. Burke bedient sich des zeitgenössisch beliebten Motivs des Doppelgängers, dessen Existenz mit dem ‚Original‘ unheimlich verbunden ist. Hier wird dies noch deutlicher als sonst, da die jenseitige Macht jener Teil einer verkrüppelten Seele ist, die endlich (und auf radikale Weise) Rache nehmen will. Noch einmal Burke wandelt in einer zweiten Story dieses Konzept ab, indem sich ein Mann wissentlich in ein Ungeheuer und so in das Übel verwandeln lässt, das ein unschuldiges Kind befallen hat.
Heimsuchung von ‚drüben‘ kann aber auch auf reine Bosheit zurückgehen, die im Leben ungesühnt blieb und sich im Tod fortsetzt. Patrick Carleton (d. i. Patrick Carleton Railton, 1907-1942) knüpft an Traditionen an, wie sie M. R. James (1862-1936), der Altmeister der englischen Gruselgeschichte, gepflegt hatte, fügt dem jedoch nicht nur unterschwellig einen sexuellen Aspekt hinzu, der James kaum gefallen hätte. Henry St. Clair Whitehead (1882-1932) schöpft als Geistlicher und Missionar einmal mehr aus seinem in Westindien gesammelten Erfahrungsschatz, indem er einen Möchtegern-Dämonenjünger mit spukhafter Wirkung scheitern lässt. Whiteheads Bild der Karibik wird von heute politisch unkorrekten Vorurteilen und Klischees geprägt, die uns u. a. auch in zeitgenössischen Horrorfilmen begegnen. (Dem Unterhaltungswert schaden solche in ihrer Zeit zu sehenden Wertungen übrigens nicht.)
‚Es‘ mag keine Neugierigen
Unschuld schützt vor Strafe nicht, worüber uns bereits Thomas Burke informiert hat. Auch Carletons Pechvogel hat sein Schicksal keineswegs ‚verdient‘. Doch manche Geister sind einfach bösartig - eine Prämisse, die auch der erwähnte M. R. James immer wieder herausstellte. Henry Chapman Mercer (1856-1930) lässt dies einige nachträgliche entsetzte Ehrenmänner auf die harte Tour lernen. Sie betrachten ein Geisterhaus als vergnüglichen Zeitvertreib und intellektuelle Herausforderung. Die ‚Strafe‘ trifft indes nicht sie, sondern ein ahnungsloses Opfer.
Ulric Daubeny (1888-1922) und Herbert Russell Wakefield (1888-1964) weisen darauf hin, dass diese heute so ‚rationale‘, von Wissenschaft und Technik dominierte Welt womöglich ihre Nischen besitzt, in denen Mächte überlebten, mit denen der Mensch einst wissentlich und voller Angst seinen Lebensraum teilte. Sie halten sich nun verborgen, sind aber weiterhin präsent, wenn man dorthin gerät, wo sie weiterhin auf ihre Vorherrschaft pochen. James Edmond (1859-1933) schlägt einen ähnlichen Kurs ein, wenn er recht schwarzhumorig ein eigenwilliges „Lost-Race“-Garn mit dem Scheitern einer ohnehin vom Pech verfolgten Reisegruppe verknüpft.
Hier geht die Heimsuchung schon mit einem Wahnsinn einher, den Elinor Mordaunt (d. i. Elionore May Clowes, 1872-1942) in den Mittelpunkt stellt. Kein Phantom, sondern ein quicklebendiger Irrer hat ihre Hauptfigur in die Enge getrieben. Dass er blind ist und in Nebel und Dunkelheit keine Orientierungsprobleme hat, ist nur eines der Elemente, mit dem die Autorin an der Spannungsschraube dreht.
‚Es‘ lauert in den Winkeln dieser Welt
Ernest Favenc (1845-1908) verzichtet auf übernatürliche Einflüsse, aber nicht auf Schauder und Schrecken. Er transportiert die Pest - das Grauen (nicht nur) des Mittelalters - in die Moderne und entwirft ein Bild, das dem überlieferten Horror gerecht werden kann: Nicht nur im Wahnsinn, sondern in ihrer ungerichteten Übermacht offenbart die Realität ihre alltäglichen Schrecken.
Madeline Yale Wynne (1847-1918) und Wirt Gerrare (d. i. William Oliver Greener, 1862-1935) verzichten gänzlich auf eine ‚logische‘ Aufklärung des Erzählten bzw. überlassen entsprechende Bemühungen ihren Lesern. Sie beschränken sich auf die Inszenierung oft nur latenter Bedrohungen, hinter denen spürbar Schlimmes steht. Gerade weil die Auflösung Fragen offenlässt, steigern sich nicht nur in den Protagonisten, sondern auch in den Lesern Ungewissheit und Angst: Wir wollen wissen, was hinter den Seltsamkeiten steckt, da Wissen bekanntlich Macht bedeutet.
Die Angst hat viele Namen bzw. Quellen. Hier lernen wir dies dank uns bisher unbekannter Erzähltalente kennen. Die Herausgeber haben nicht nur vorzügliche Arbeit geleistet, sondern kündigen bei Erfolg dieser Publikation Nachschub an. Hoffen wir, dass dieser sich einstellt, denn das Projekt verdient ihn!
Fazit:
Freunde der klassischen britischen „ghost story“ registrieren hierzulande freudig diese Kollektion, die nicht zum x-ten Mal längst bekannte Gruselgarne aufwickelt, sondern mit unbekannten Erzählungen sowie Autorinnen und Autoren aufwartet, die formvollendet den grimmig-gemütlichen Schrecken wecken: Fortsetzung auf jeden Fall erwünscht bzw. ersehnt!

Reinhard Klein-Arendt, Michael Schmidt, Independently published
Deine Meinung zu »Die Geisterseher«
Wir freuen uns auf Deine Meinungen. Ein fairer und respektvoller Umgang sollte selbstverständlich sein. Bitte Spoiler zum Inhalt vermeiden oder zumindest als solche deutlich in Deinem Kommentar kennzeichnen. Vielen Dank!