Das zweite Gesicht

  • Blitz
  • Erschienen: Januar 2013
  • 1
Das zweite Gesicht
Das zweite Gesicht
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Carsten Steenbergen
84°1001

Phantastik-Couch Rezension vonOkt 2006

Eintauchen in die mystische Stummfilm-Ära

Während das Medium Kino sich heutzutage mit immer weiter fortgeschrittener Technik (High Frame Rate 3D im aktuellen "Der Hobbit") an die Zuschauer wendet, so führt Kai Meyers Roman "Das zweite Gesicht" den Leser an die Anfänge der bewegten Bilder zurück - der Ära der Stummfilme. Eingebettet in die Zeit der Weimarer Republik liefern sich die Produzenten der gewaltigen Machwerke auf der Jagd nach Anerkennung astronomische Materialschlachten; die Grenzen des Machbaren wirken aufgehoben, der Ausdruck nahezu visionär opulent. Stars für die Massen gehen aus dieser Maschinerie hervor; gottgleich empor gehoben und rasant wieder gestürzt. Ihre Erfolge und Katastrophen bilden die Grundlage des kommenden Tonfilms, der nur einige wenige Jahre später realisiert werden wird.

Okkulte Sekte hinter den Kulissen der Filmindustrie

Chiara Mondschein reist aus dem provinziellen Meißen in die Großstadt Berlin, um an der Beerdigung ihrer Schwester Jula, einer gefeierten Stummfilm-Darstellerin, teilzunehmen. Ihr Plan, anschließend nach Hause zurückzukehren, weicht jedoch schnell der Neugier und dem Wunsch, die entfremdete Schwester, die vor vielen Jahren das Zuhause verlassen hat, besser kennenzulernen. Der gestürzte Produzent Felix Masken, der nach einigen Misserfolgen unbedingt erneut an die guten Zeiten anknüpfen will, sieht in Chiara seine Gelegenheit gekommen, denn die Ähnlichkeit der beiden Schwestern ist unübersehbar. Gekonnt umgarnt er Chiara, bis sie schließlich einwilligt, in einem nicht fertiggestellten Projekt den Platz ihrer Schwester einzunehmen. Ehe sie sich versieht, verliert sie sich im Glamour und dem vergängliche Ruhm der Scheinwelt, obwohl hinter den Kulissen Egoismus, Drogenmissbrauch, sexuelle Ausschweifungen und Gewalt vorherrschen. Doch dann reißt sie ein furchtbares und okkultes Geheimnis zurück in die scheinbare Wirklichkeit und Chiara erkennt, dass sie sich in ernster Gefahr befindet.

Stimmungsvolle und charismatische Neuauflage

Die Protagonistin Chiara erzählt die Geschichte aus ihrer eigenen, persönlichen Sicht und füllt sie mit ihren Eindrücken und Empfindungen. Da sie selbst die Berliner Vergangenheit ihrer Schwester nicht kennt, nimmt sie den Leser mit auf die Reise, zugleich in Julas Vergangenheit und ihr eigene Gegenwart. Spätestens mit dem Eintauchen in die verlockende Welt der Filmstudios ist man gekonnt eingefangen, muss sich wie Chiara den Verführungen, den teils abstoßenden Schattenseiten des Ruhms und ihren ergebenen Anhängern stellen.

Kai Meyer inszeniert die Weimarische Traumfabrik seines Romans gewohnt detailreich und emotional, die Charaktere brillieren in ihrer Tiefe und ihren Eigenarten, von gewalttätig bis vollkommen verloren sind alle Facetten der menschlichen Abgründe vorhanden, eingebettet in die herbe Kluft zwischen arm und reich. Wie Dominik Graf in seinem Vorwort zum Roman anmerkt: "Hier ist der Stoff, der die Weimarer Republik, den Expressionismus-Wahnsinn, Sex, Unschuld, Kokain, deutsche Mythen, Schöpfer-Exzesse und Zerstörungsräusche auf einen Punkt bringt."

Chiara, hin- und hergerissen vom Wechselbad der Gefühle aus Ekel und Faszination, kann anfänglich kaum entscheiden, wem zu trauen ist und wem nicht. Erst nach einem verhängnisvollen Unfall, bei dem ihr Begleiter verschwindet und sich förmlich in Luft auflöst, beginnt sie, ihren Weg selbst zu beschreiten und den Einflüsterungen ihrer Bekannten nach und nach zu widerstehen. Doch damit fangen die Probleme eigentlich erst so richtig für sie an.

Kontinuierlich zieht die Spannung der Erzählung bis hin zum Finale an, verliert zum Ende jedoch etwas an Aufregung - obwohl das mystische, beinahe horrorklassische Element im letzten Drittel der Erzählung sprunghaft im Vergleich zur sanften Verwendung im ersten Teil ansteigt - und bleibt nahezu nüchtern hinter den gewohnt üppigen Meyerischen Roman-Enden zurück. Dem Roman tut dies jedoch keinen wirklichen Abbruch.

"Das Zweite Gesicht" ist kein gänzliches neues Werk Kai Meyers. Tatsächlich erschien der Roman erstmals 2002, wurde jedoch für die auf nur 666 Exemplare limitierte handsignierte Neuausgabe bedachtsam überarbeitet und ist nach Angaben des Autors eines seiner eigenen Lieblingsbücher. Braucht man da noch weitere Empfehlungen?

Im Anhang findet sich ausführliches 72-seitiges Bonusmaterial, exemplarisch zum Entstehen des Romans, der Charakterentwicklung und dem Hintergrund der Filmindustrie in den 20er Jahre, erstellt von der freien Lektorin und Assistenz für Autoren Hanka Jobke, die unter anderem auch ausführliche Materialien zu "Die Alchimistin" und "Die Unsterbliche" von Kai Meyer beisteuerte.

Fazit

Ein rundum gelungenes Werk mit starker Atmosphäre, historischem Setting der Weimarer Republik und darin verwobenen starken Charakteren mit Ecken und Kanten. Den Leser erwartet ein wohl dosiertes Maß an Mystik und Spannung bis zum Schluss. Ein echter Kai Meyer eben.

(Carsten Steenbergen, Januar 2013)

Das zweite Gesicht

Kai Meyer, Blitz

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