Karneval der Alligatoren

  • Schröder
  • Erschienen: Januar 1970
  • 2
Karneval der Alligatoren
Karneval der Alligatoren
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Michael Drewniok
90°1001

Phantastik-Couch Rezension vonDez 2006

Das Ende der Welt: Untergang oder Übergang?

Kaum ein Jahrhundert ist vergangen, seit die Erde den Van-Allen-Gürtel verlor, der sie vor den unerfreulichen Bestandteilen des Sonnenlichts schützte. Seitdem steigen die Temperaturen ständig, harte Röntgenstrahlen sorgen für Unfruchtbarkeit oder Mutationen. Die meisten Menschen sind gestorben, die wenigen Überlebenden haben sich in den äußersten Norden sowie die inzwischen eisfreie Antarktis zurückgezogen. Das Land zwischen den Polarkreisen musste aufgegeben werden. Es wird von mutierten Insekten, Reptilien und anderen urzeitlich anmutenden Tieren sowie gigantischen Pflanzen beherrscht.

Die neuen, durch Überflutung und Schlick völlig veränderten Küstenlinien der halb versunkenen Kontinente sollen neu kartiert werden. Zu den Wissenschaftlern, die diese Aufgabe übernehmen, gehört der Biologe Robert Kerans. Als Mitglied einer militärischen Expedition hält er sich in den Ruinen des ehemaligen London auf. Er schätzt die Privatsphäre, die ihm seine Arbeit beschert, und ist deshalb entsetzt, als die Order zum Abzug ergeht.

Kerans weigert sich zu gehen. Verbündete findet er in der selbstbewussten Beatrice Dahl und in seinem Kollegen Bodkin. Sie sind süchtig nach ihren Träumen geworden, die sie geistig in einer vorzeitlichen Tropenwelt aufgehen lassen. Das Trio setzt sich ab und gibt sich seinen Visionen und der individuellen Selbstauflösung hin. Nur kurz kann der Freibeuter Strangman sie aus ihrer Lethargie reißen, bevor sie sich endgültig in der flirrenden Hitzehölle verlieren ...

Der erste Roman der vier Elemente

  • Wasser (";The Drowning World", 1962; dt. ";Karneval der Alligatoren"/";Paradiese der Sonne")
  • Luft (";The Wind from Nowhere", 1962; dt. ";Der Wind aus dem Nichts")
  • Erde (";The Crystal World", 1966; dt. ";Kristallwelt")
  • Feuer (";The Burning World"/";The Drought", 1968; dt. "Welt in Flammen"/";Die Dürre")

Dies sind die vier Urelemente, aus denen sich die Welt laut Schöpfungsgeschichte (nicht nur der christlichen) zusammensetzt. Sie bilden die Grundlage allen Lebens auf der Erde; eine Bindung, die für den Menschen so selbstverständlich ist, dass er sich selten Gedanken darüber macht, welche Konsequenzen es hat, wenn dieses Fundament ins Wanken gerät. Das sollte er aber, denn schließlich ist er es, dem genau dies möglich geworden ist. Er riskiert es um seiner Bequemlichkeit willen, verpestet die Luft und heizt sie mit Abgasen auf, er vergiftet und verbraucht das Wasser, er setzt das Feuer ein, das zwar wärmt und antreibt aber auch zerstört, und er formt das Land nach Belieben aber mit gefährlichen Begleiterscheinungen.

Doch die Erde ist ein komplexes Ökosystem, das Verstöße gegen die Gebrauchsanweisung nur bedingt zulässt. Anfang der 1960er Jahre war dies noch eine Warnung, die überhört und verlacht werden konnte. Man darf J. G. Ballards Tetralogie der Elemente ohnehin nicht als Warnung vor Umweltverschmutzung und -vernichtung betrachten. Die Katastrophe ist in ";Paradiese der Sonne" nicht vom Menschen verursacht. Eine astronomische Laune hat die Erde in einen Brutkasten verwandelt, der allerlei Schrecknisse und Wunder gebiert. Wissenschaftliche Akkuratesse ist dem Verfasser unwichtig: Gleichgültig wie hoch die Mutationsrate angestiegen ist - sie erklärt nicht die massenhafte Anwesenheit von Alligatoren, Leguanen oder gar Seidenaffen. Wie sollten sie auf die Nordhalbkugel gekommen sein? So schnell läuft Evolution nicht ab. Für Ballard sind diese Kreaturen ‚Verstärker‘ seiner bizarren Zukunftswelt.

Wenn der Mensch eine ‚Schuld‘ trägt, dann ist es die übliche: Er arrangiert sich nicht mit den neuen Verhältnissen, sondern versucht wie seit jeher der Welt seinen Willen aufzuzwingen. Der Natur- folgte deshalb die Kulturkatastrophe: Die Menschheit zählt nur mehr nach Millionen. Ihre Zeit läuft ab, denn es werden kaum noch Kinder geboren.

Ein Versuch der Anpassung?

Ist es dem Menschen möglich sich tiefgreifenden Veränderungen zu stellen und sich zu adaptieren oder besser: adaptieren zu lassen? Diese Frage spielte J. G. Ballard zwischen 1962 und 1968 viermal durch. Er lässt eine kleine Gruppe aufgeschlossener Menschen ins Innere der Fremde vordringen und beobachtet, was mit ihnen und in ihnen dort geschieht. Sie sind auf sich gestellt. Das bedeutet für Ballard auch und vor allem geistige Isolation. Die Umwelt dringt ungefiltert auf sie ein.

In ";Paradiese der Sonne" weckt die Katastrophe im Menschenhirn begrabene, nie selbst erlebte sondern ‚biologisch‘ nicht unbedingt im Gehirn sondern ";in der Wirbelsäule" (= gleich in den tiefen, dem Instinktiven vorbehaltenen Regionen des Geistes) gespeicherte Erinnerungen an ferne Urzeiten, in denen die Saurier die Welt beherrschten. Dieser Vorgang setzt einen Mechanismus in Gang, der die Betroffenen das Interesse an der Gegenwart verlieren lässt. Sie retardieren geistig oder besser: Sie entwickeln sich zurück, bis am Schluss das vermutlich glückliche Versinken in der primitiven Ursuppe steht.

Diesen Vorgang verdeutlicht Ballard nicht grundlos durch zahlreiche Assoziationen an das vorgeburtliche Dämmern in der Gebärmutter. Heiß und feucht ist das Klima; es erschwert das Denken. Der Hang dem nachzugeben, sich fallen zu lassen und bedingungslos auf das Unbekannte einzulassen wächst stetig.

Ungewöhnlich für einen SF-Roman der frühen 1960er Jahre ist die Frage, ob dies automatisch negativ zu beurteilen ist. Falls es so etwas wie ein klassisches SF-Element gibt, dann personifizieren es einerseits Oberst Riggs, der für innere Schwingungen taube Militär, und andererseits Strangman, der die alte Welt zu seinem persönlichen Vergnügen ausschlachtet, ohne jemals zufrieden mit der angehäuften Beute zu sein.

Das mythologische Element wird in ";Paradiese der Sonne" immer wieder betont. Obwohl die alte Welt in Schlamm und Wasser ertrinkt, wandern Kerans und seine Gefährten geradewegs ins Fegefeuer. In der Hitze der von Plasmastürmen gepeitschten Sonne können sie nicht wirklich existieren. Trotzdem folgen sie ihrer Vision und sind möglicherweise die einzigen Menschen, die wirklich einen Weg für sich finden. Dass dieser mit dem Untergang identisch sein könnte, ist für Ballard keine Tragödie. In den Fensterhöhlen der verlassenen Häuser sitzen die Leguane. Sie haben die Welt der Menschen problemlos übernommen.

Science Fiction oder Literatur? Oder etwa beides?

Stilistisch ist ";Paradiese der Sonne" eine kleine Offenbarung - klein deshalb, weil Ballard 1962 am Anfang einer bemerkenswerten Karriere als Schriftsteller stand, die ihn noch in ganz andere Höhen führte, und weil dieser Roman ins Deutsche übersetzt wurde. Dies geschah erstmalig 1968, sodass es höchste Zeit für eine Neuübersetzung wurde. Sie ist ausgezeichnet geraten und vermag mitzuhalten, wenn Ballard in epischen Beschreibungen der tropfenden, vor exotischem Leben strotzenden Welt nach der Katastrophe schwelgt, die womöglich keine Katastrophe ist.

Über allem schwebt eine Stimmung tiefer Melancholie. Der ‚alte‘ Mensch und seine Werke wurden von der Natur abgeschrieben, die ansonsten ohne Probleme ‚funktioniert‘. Ohne Bedauern oder gar Rücksicht übernehmen neue Herren das Regime. So war es immer und so wird es bleiben. Der Mensch ist nur eine Episode im Buch der Erd- und Weltgeschichte.

Kein Wunder, dass die üblichen Action-Ausbrüche der klassischen ";Post-Doomsday"-SF bei Ballard fehlen. Sogar der nüchterne Oberst Rigg, ein Relikt der Vergangenheit, begreift die Sinnlosigkeit eines Kampfes, der bereits verloren ist. Strangman, der über die technischen Möglichkeiten verfügt, versunkene Stadtteile auszupumpen, veranlasst dies nicht, um den status quo ante wiederherzustellen. Er will mit seiner Macht prahlen und die wieder begehbar gewordenen Teile der alten Welt schlicht ausplündern.

Wenn er seine Meute durch die Ruinen Londons schickt, wird die Handlung endgültig zum surrealistischen Bild. Die Logik des Geschehens löst sich in einem Wirbel mehr oder weniger deutbarer Szenen auf, die in Dekadenz und Wahnwitz förmlich getränkt sind. Die Irrfahrt der Figuren gleicht in diesen Passagen eher einem mittelalterlichen Totentanz.

Auf diese Reise - diesen freiwilligen ‚Abstieg‘ in die Abgründe der Zeit - muss sich der Leser einlassen. Schwer macht es einem der Autor nicht. ";Paradiese der Sonne" gilt als Vorläufer der experimentierfreudigen ";New-Age"-SF, die in der zweiten Hälfte der 1960er Jahre das Genre revolutionierte, ohne jedoch mit den klassischen und damit zeitlosen (= lesbaren, problemlos konsumierbaren, verständlichen, simplen - dies entscheide wer möchte) Erzähltechniken zu brechen. Stattdessen wirkt ";Paradiese der Sonne" verblüffend modern, während so mancher einst gerühmte Bestseller längst im literarischen Urschlamm versunken ist ...

Abschließend doch eine ketzerische Frage: Wieso wird einem Buch, das endlich neu und ungekürzt übersetzt wird, ein völlig unpassender deutscher Titel aufgedrückt? Zwischen ";Die ertrunkene Welt" und ";Paradiese der Sonne" klafft ein Gegensatz. Interessant ist allerdings, dass Ballard das letzte Kapitel seines Buches von 1962 so betitelte und 1984 seine (auch als Stephen-Spielberg-Film bekannt gewordene) Biografie ";Das Reich der Sonne" nannte. Unterschwellig ziehen sich vielfältig interpretierbare Erinnerungen und Gedanken durch Ballards Werk, doch diese zu dechiffrieren sei den einschlägigen Fachleuten überlassen.

Karneval der Alligatoren

James Graham Ballard, Schröder

Karneval der Alligatoren

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