Es

  • Goldmann
  • Erschienen: Januar 1977
  • 1
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Michael Drewniok
75°1001

Phantastik-Couch Rezension vonJan 2020

Sieben witzige (und ein grausiger) Besuch/e von ‚drüben‘

Sieben frühe Geschichten des Autors schildern Begegnungen zwischen Mensch und Alien, aber auch zwischen Mensch und Monster:

- Es (It; 1940), S. 7-33: Moder und Hitze zeugen ein Monster, das jenseits von Gut und Böse nur die Neugier kennt; vor allem interessiert es sich für die Funktionsweisen von Pflanzen, Tieren und Menschen, die es testet, indem es die untersuchten Objekte in Stücke reißt.

- Das undurchdringliche Gesicht (Poker Face; 1941), S. 34-47: Eigentlich sollte er einen Flüchtling stellen und zurückschaffen, doch der Agent aus der Zukunft kann den Verlockungen der Vergangenheit = unserer Gegenwart nicht widerstehen.

- Äther-Intelligenzen (Ether Breather; 1939), S. 48-63: Eine neue TV-Übertragungstechnik öffnet die Pforte in eine fremde Dimension, was deren Bewohnern endlich ermöglicht, ihre Version von „Humor“ an den Erdmenschen zu testen.

- Der Parfümkönig (Butyl and the Breather; 1940), S. 64-87: Nachdem man die Fremden aus Dimension X voreilig vertrieben hat, versuchen zwei erfindungsreiche Männer sie mit einer brachialen Methode zurück zu locken, was sowohl gelingt als auch nach hinten losgeht.

- Der Wechselbalg (Brat; 1941), S. 88-106: Um die alte Erbtante zu erweichen, muss das junge Ehepaar ihr ein Baby vorweisen: Auftritt für Butch, Wechselbalg auf Bewährung, der seinen Job hasst und dies großzügig in seine Arbeit einfließen lässt.

- Zwei Prozent Inspiration (Two Percent Inspiration; 1941), S. 107-128: Um sich ihrer böswilligen Verfolger zu entledigen, lassen sich ein raumfahrender Wissenschaftler und sein Assistent von ihrer geliebten Science-Fiction-Lektüre inspirieren.

- Eine seltsame Fracht (Cargo; 1940), S. 129-159: In Europa tobt der Zweite Weltkrieg, was die einheimische Jenseits-Bevölkerung aus Geistern, Kobolden, Feen etc. dazu bewegt, sich in friedlichere Gefilde in Übersee abzusetzen.

Blicke in schattige Falten der Realität

Auch Meister fangen als Lehrlinge an; dies gilt nicht nur für Handwerker, sondern auch für Schriftsteller. Theodore Sturgeon (1918-1985) gilt als Mit-Schöpfer einer ‚psychologischen‘ Science Fiction, die nicht den naturwissenschaftlich-technischen Fortschritt in den Fokus stellt, sondern den Menschen, der mit Situationen konfrontiert wird, die seinen Erfahrungshorizont übersteigen. Für die „inner space science fiction“ war Sturgeon ein Pionier, der sich stilistisch der klassischen SF verbunden fühlte, d. h. anders als die Vertreter der „New Science Fiction“ nicht mit der Sprache experimentierte, sondern allgemeinverständlich blieb.

Als Vertreter des „Golden Age of SF“ sieht man Sturgeon normalerweise nicht; prominenter sind seine späteren Werke. Doch schon als Zwanzigjähriger mischte er auf dem zeitgenössischen Markt der „Pulp“-Magazine mit und lieferte, was deren Publikum wünschte: Sensationen und Überraschungen. Eine logische Erdung war dagegen Nebensache - ein Umfeld, in dem sich der junge Sturgeon gut behauptete.

„Es“ - die Originalsammlung trägt den wesentlich treffenderen, ironischen (und schöneren) Titel „Without Sorcery“ - belegt Sturgeons Arbeit für Magazine wie „Unknown“ und „Astounding Science Fiction“. Hier wurden Leser bedient, die nicht unbedingt Wert auf jene „science“ legen, die ihnen andere Magazine im Brustton der Überzeugung als „wissenschaftlich korrekt“ präsentierten. Im Vordergrund stand die eigentlich unmögliche und deshalb umso unterhaltsamere Konfrontation der Realität mit dem nicht nur Unbekannten, sondern auch Unerwarteten oder Unheimlichen.

Schreckliche und witzige Begegnungen

Sturgeon war ein Profi, der alle phantastischen Genres bereicherte. „Some of Your Blood“ (1961; dt. „Blutige Küsse“) ist ein Roman, der den Vampir einfallsreich in die Gegenwart befördert. „Es“ zeigt, dass Sturgeon schon früher wusste, wie er Horror erzeugen konnte, ohne auf faule Tricks zurückzugreifen. Er schildert, wie das Grauen über eine US-amerikanische Familie kommt. Gelungen ist das Konzept einer Kreatur, die weder ‚gut‘ noch ‚böse‘ ist, sondern einfach nur existiert. Ihre brutalen Taten spiegeln reine = ‚unschuldige‘ Neugier wider, und ihr Ende ist nicht die typische Konfrontation zwischen ‚Held‘ und ‚Monster‘, weshalb die Ironie des Epilogs umso kraftvoller wirkt. Der Schrecken wird erklärt, doch der Horror - jener irrationale Teil der Angst, der sich im Hirn einnistet, um dort sein Unwesen zu treiben - bleibt.

Nicht ganz so ernst ist Sturgeon in „Eine seltsame Kraft“. Diese Story erschien, als der Zweite Weltkrieg gerade ein Jahr tobte und die USA noch neutral waren. Aus dortiger Sicht versank Europa in einem Irrsinn, den man aus der Ferne nicht durchschaute, sondern mit Schaudern betrachtete. Einige Jahre später hätten sich die (geschickt nur indirekt handlungsaktiven) ‚Auswanderer‘ auf die Seite der Alliierten geschlagen und die Nazis gezüchtigt, statt ihre Heimat aufzugeben.

Die übrigen Storys dieser Sammlung sind auf den Schlussgag zentrierte Humoresken, wobei die Grenze zum Kalauer kein Hindernis darstellt. Humor ist generell ein komplexes Thema; er differiert kulturell, und er ist ein Kind seiner jeweiligen Zeit, weshalb er sich verändert. Was einst als komisch galt, kann heute sogar peinlich wirken. So hart trifft es Sturgeon nicht, obwohl Garne wie „Äther-Intelligenzen‘ und die Fortsetzung „Der Parfümkönig“ recht brachial für Lachen sorgen sollen (was eine nur bedingt gelungene Übersetzung noch verstärkt).

Die sinnvollste Reaktion im Angesicht des Unvorhersehbaren

Während „Zwei Prozent Inspiration“ ein Gag ist, der zu lang ist bzw. zu umständlich vorgetragen wird und deshalb verpufft, schafft Sturgeon mit „Das undurchdringliche Gesicht“ und vor allem mit „Der Wechselbalg“ den Tanz auf jener Rasierklinge, die eine gelungene „tongue-in-cheek“-Story auszeichnet: Der Witz basiert nicht ausschließlich auf dem Auftritt des ‚Fremden‘ und der daraus resultierenden Überraschung, sondern greift eine originelle Idee auf. Butch, der hinterlistige Wechselbalg, arrangiert sich mit seinen zunächst verblüfften, aber nie entsetzten ‚Eltern‘, woraufhin die Handlung eine gänzlich unerwartete Wendung nimmt.

„Das undurchdringliche Gesicht“ ist dort erfolgreich, wo Sturgeon mit „Zwei Prozent Inspiration“ scheitert. Er nimmt die Gigantomanie und die blühende Unlogik der zeitgenössischen Science Fiction auf die Schippe, kann dies aber nur in der erstgenannten Kurzgeschichte mit einer der dem Thema gewachsenen Idee kontern und verknüpfen: „Das undurchdringliche Gesicht“ ist nicht nur ein Scherz, sondern selbst ein gelungenes Beispiel für Ideen-SF.

Anmerkung: Wie üblich in einer Ära seitennormierter SF ist die deutsche Ausgabe lückenhaft. Es fehlen die Einleitungen von Ray Bradbury und Theodore Sturgeon sowie die nun aufgelisteten Storys, die immerhin (mit einer Ausnahme) in anderen Sturgeon-Sammelbänden der Reihe Goldmann-SF aufgenommen wurden:

- The Ultimate Egoist (1941) [keine dt. Übersetzung]

- Shottle Bop (1941), dt. „Haschenflaus“, in: Tausend Schiffe am Himmel (Goldmann-SF 0189)

- Artnan Process (1941), dt. „Licht von den Sternen“, in: Licht von den Sternen (Goldmann-SF 0192)

- Memorial (1946), dt. „Das Monument“, in: Tausend Schiffe am Himmel (Goldmann-SF 0189)

- Maturity (1947), dt. „Reifezeit“, in: Das Geheimnis von Xanadu (Goldmann-SF 0188)

- Microcosmic God (1941), dt. „Der Gott des Mikrokosmos“, in: Der Gott des Mikrokosmos (Goldmann-SF 0195)

Fazit:

Sieben frühe Storys belegen, dass der später für seine ‚psychologische‘ Phantastik gefeierte Theodore Sturgeon in seinen schriftstellerischen Anfangsjahren bereits einfallsreich sowie witzig sein konnte. Zwar fehlt (noch) die Raffinesse, dennoch haben diese alten (und altmodischen) Geschichten erstaunlich viel von ihrem Unterhaltungswert behalten.

Es

Theodore Sturgeon, Goldmann

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