Revolte im Jahre 2100

  • Goldmann
  • Erschienen: Januar 1981
  • 0
Revolte im Jahre 2100
Revolte im Jahre 2100
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Michael Drewniok
80°1001

Phantastik-Couch Rezension vonJul 2023

Die Zukunft ist das, was DU aus ihr machst!

- Revolte im Jahre 2100 („If This Goes On ...“; 1940/1953), S. 7-131: In dieser Zukunft haben sich die USA in einen fundamentalistischen Gottesstaat verwandelt. Das vom „Ersten Propheten“ angeführte Regime geht restriktiv gegen „Parias“ u. a. Kritiker vor, die systematisch verfolgt, von der „Inquisition“ gefoltert und hingerichtet werden.

John Lyle dient dem „Propheten“ als Soldat, doch seine festgefügten Überzeugungen geraten ins Wanken, als er mit den kriminellen und unmoralischen Schattenseiten dieser ‚Kirche‘ konfrontiert wird. John läuft über zur „Brüderschaft“, einer heimlichen, aber gut organisierten Widerstandsgruppe. Hier wird er für den Untergrundkampf ausgebildet und erlebt im Einsatz gegen das Regime viele gefährliche Abenteuer.

- Die Barriere (Coventry; 1940), S. 132-169: David MacKinnon hat die Nase voll vom allzu durchorganisierten, ‚verweichlichten‘ „neuen“ Amerika. Ihn zieht es nach Coventry, eine Exklave, deren Bewohner ohne Regierungs- und Behördenapparat auskommen - und auf ahnungslos-idealistische Tröpfe wie MacKinnon warten ...

- Raumstation E-M 3 (Misfit; 1939), S. 170-190: Junge Männer, die kriminell geworden oder anderweitig negativ aufgefallen sind, bekommen im Weltraum eine neue Chance: Sie bauen einen Asteroiden zur Raumstation um.

Ein Debüt als zweiter Versuch

Man muss als Leser bereit sein, sicher geglaubte Feststellungen in Frage zu stellen. Wer hätte gedacht, dass ausgerechnet Robert A. Heinlein diesen Rezensenten noch erstaunen kann? Zu viele didaktisch überladene „Romane für die Jugend“ sowie ein Spätwerk, das immer peinlicher die Fantasien eines alternden Mannes enthüllt, der das Schwinden seiner Kräfte leugnet und in ‚Weisheit‘ umdeutet, was zu einem formloser Haufen obskurer politischer oder gesellschaftlicher Schnapsideen ver- bzw. zerschmilzt, können verbergen, dass Heinlein tatsächlich erzählen und schreiben konnte sowie zu Recht zu den Großmeistern der Science Fiction gezählt wird.

Man muss zwar das Werk sieben und sollte sich auf seine Erzählungen konzentrieren, stößt aber auf angenehme Überraschungen auch in Romanlänge. Heinlein war nicht immer ein ‚liberaler Reaktionär‘, sondern offen für Möglichkeiten, wobei diese gegen den Zeitgeist verstoßen durften oder sogar sollten. Er barst förmlich vor Schaffenslust, weshalb er manchen bemerkenswerten Einfall, den spätere Autoren zu Endlos-Zyklen ausgesponnen hätten, quasi nebenbei in seine Geschichten einfließen ließ.

Zudem war dieser Heinlein lernfähig. 1939 hatte er sich erstmals an einem Roman versucht. „For Us, the Living. A Comedy of Customs“ (dt. „Die Nachgeborenen“/„2086 - Sturz in die Zukunft“) ist allerdings zu seinen Lebzeiten nicht erschienen. Zu akademisch hatte der junge Autor sich an der Beschreibung einer möglichen Zukunft versucht und dabei in Details verloren. Heinlein lernte schnell seine Lektion: Leser wollen unterhalten werden. Gelingt das, kann man sie auch mit Fakten und Theorien konfrontieren.

Der moralische Kompass als Leitstern

Obwohl es turbulent zugeht während der „Revolte im Jahre 2100“, nimmt sich Heinlein immer wieder Zeit, seinen redlichen, aber naiven Helden - und damit uns Leser - Lektionen über die wahren Werte des Lebens zu erteilen. Hier profitiert der Autor zunehmend vom Alter bzw. nostalgischen Glanz, der sein Werk überzieht. Obwohl uns heute nicht nur das Treiben des „Propheten“, sondern auch die Ideologie der „Brüderschaft“ durch Phrasendrescherei und Bevormundung dominiert scheinen, sind wir im Urteil freundlicher, weil Heinlein ein „Klassiker“ ist: Gemeint ist dabei nicht (nur) die Qualität seines Werks, sondern auch die Tatsache, dass sein Werk im Kontext einer Zeit gewertet werden sollte. war, deren Werte uns heute oft fremd geworden sind.

Natürlich darf man von einer SF-Geschichte keine geschliffene, sämtliche Details der politischen, gesellschaftlichen und kulturellen Gegenwart berücksichtigende und in die Zukunft extrapolierte Darstellung erwarten. Dass Heinlein sich überhaupt und trotz der miserablen Autorenhonorare diese Mühe machte, belegt sein Engagement, das sich nach 1940 in einer „Future History“ widerspiegelte. In mehreren Romanen und zahlreichen Erzählungen entwarf er eine Zukunft, die er im Guten wie im Üblen seinen Theorien und seinem Weltbild unterwarf. Mehr als zwei Jahrzehnte spann er diese Zukunftsgeschichte weiter, um sie in der (eher traurigen) Endphase seiner Karriere noch einmal aufzugreifen.

John Lyle ist der typische „reine Tor“, den Heinlein in die rechte Form für ‚seine‘ Welt knetet. Anfänglich ist er fehlgeleitet, aber unschuldig, weil (übertrieben) blind für jene Schmutzflecken, die den Eindruck des idealen Staates trüben, in dem er angeblich lebt. Er merkt nicht, dass er instrumentalisiert wird. Viele Aha!-Erlebnisse, klärende Worte wohlmeinender, das Hirn deutlich intensiver einsetzender Freunde und (natürlich) die Liebe zerreißen dieses Netz blinden Vertrauens.

Sei immer auf der Hut vor „der Wahrheit“!

Lyles Lernprozess ist buchstäblich schmerzhaft, denn er wird zwischenzeitlich von einem theatralisch bösartigen „Inquisitor“ gemartert. Damit ist seine Abnabelung vom „Propheten“ komplett. Die Handlung verlagert sich vom zentralen „Heiligtum“ in die Außenwelt, die Heinlein als krude Mischung aus Fortschritt und zeitloser Idylle schildert: Man trägt als Mann (wieder?) Hut und fliegt einen Gleiter der Marke „Ford“: Jene nicht von der Zivilisation angekränkelten ‚Werte‘, denen sich der Autor verpflichtet fühlt, haben sich erhalten; sie werden uns voller Inbrunst (und sich unfreiwillig selbst als Wunschvorstellung entlarvend) vorgestellt: Vertraue dem gesunden Menschenverstand, stelle ihn über Wissen und Ideologie!

Ungeachtet solcher Attitüden ist diese Geschichte spannend und wartet mit den schon erwähnten Einfällen auf. So sind in der Brüderschaft keineswegs die Männer allein für die Revolution zuständig. An vorderster Front spionieren und kämpfen gleichberechtigt auch Frauen. Überraschend kritisch fällt auch Heinleins Blick auf das christlich-fundamentalistische Regime des „Propheten“ aus. Die Kirche war in den zeitgenössischen USA eine Macht, mit der man rechnen musste, wenn man sie verärgerte. Doch Heinlein folgt unbeirrt seiner Überzeugung: Totalitarismus ist zu bekämpfen, selbst wenn oder gerade wenn er von etablierten Autoritäten ausgeht.

Gleichzeitig ‚muss‘ sich der Bürger beugen, wenn oben die ‚richtigen‘ Leute Anordnungen geben! Hier zu differenzieren fällt heutzutage schwer, da Heinleins ideale Regierung keineswegs liberal ist. Wenn in „ Raumstation E-M 3“ die jugendlichen Delinquenten ins All geschafft werden, um sich dort zu ‚bewähren‘, gleicht dies dem Eintritt in die französische Fremdenlegion: Sämtliche Übeltaten sind gestrichen, man beginnt ein neues Leben - oder lässt es während des Einsatzes, der eigentlich eine „Chaingang“-Buße darstellt.

Leben ist Wandel

Doch abermals windet sich Heinlein geschickt aus jener Schlinge, in der man ihn als ‚reaktionären Rebellen‘, gefangen glaubt. Dem Autor war durchaus klar, dass sich Normen und Regeln verändern können und werden. „Die Barriere“ spielt einige Jahre nach „Revolte im Jahre 2100“. Wie sich herausstellt, ist das „neue“ Amerika, das aus der „Brüderschaft“ hervorgegangen sein muss, keineswegs fehlerfrei. Tatsächlich hat das Pendel zu weit auf die Gegenseite ausgeschlagen: Die Gesellschaft ist so ‚friedfertig‘ geworden, dass sich Freigeister davon abgestoßen fühlen.

David MacKinnon will keine Knute spüren, doch seine Flucht ins gelobte Land Coventry erweist sich als Selbstbetrug: Wo keine Ordnung herrscht, werden gewalttätige Tyrannen die Macht übernehmen. MacKinnon muss eine harte Lektion überstehen, die ungeachtet der dick aufgetragenen Niedertrachten, denen er ausgesetzt ist, seinen finalen Sinneswandel glaubhaft machen: Anarchie ist also nach Heinlein erst recht keine Lösung.

Die deutschen Ausgaben enthalten zwar seit jeher den Roman und die beiden Erzählungen. Gestrichen wurden aber wie üblich Vor- bzw. Nachwort. So führte ursprünglich Heinleins Schriftstellerkollege Henry Kuttner (1915-1958) unter dem Titel „The Innocent Eye: An Introduction“ in die „Future History“ ein. Interessant, aber ebenfalls unterschlagen wurde „Concerning Stories Never Written: Postscript (Revolt in 2100)“, ein Beitrag, in dem Heinlein selbst sich mit seiner Zukunftsgeschichte beschäftigte und dabei auch auf die Schwächen des Konzepts einging.

Fazit:

Ein früher Roman und zwei frühe Storys leiten jene „Future History“ ein, mit der Robert A. Heinlein sich an einer Geschichte der Zukunft versuchte und dabei eine sehr spezielle Sicht auf Politik, Gesellschaft und Wissenschaft an den Tag legte. Sein Weltbild hat sich überlebt, doch es fügt sich in spannend erzählte Geschichten ein.

Revolte im Jahre 2100

Robert A. Heinlein, Goldmann

Revolte im Jahre 2100

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