Hexenwasser

  • Heyne
  • Erschienen: Januar 1991
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Hexenwasser
Hexenwasser
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Michael Drewniok
90°1001

Phantastik-Couch Rezension vonAug 2007

Sommeridylle als bitterer Betrug

In Tenbridge, einem Dörflein in der südostenglischen Grafschaft Essex, scheint die Zeit im Sommer 1952 stehengeblieben zu sein. Durch Salzmarschen und Sümpfen seit jeher von der Außenwelt abgeschnitten, hat sich in unmittelbarer Nähe der Atlantikküste ein wortkarger, emotional verschlossener Menschenschlag quasi eingeigelt. Man lebt von harter Arbeit, ist trotzdem relativ arm und ungebildet. Aberglaube und alte Vorurteile prägen diese Leute, die nicht einmal der Zweite Weltkrieg aus ihrem Trott reißen konnte.

Raymond "Titch" Swan verbringt eine nur scheinbar glückliche Kindheit in Tenbridge. Erst jetzt, im "Alter" von zwölf Jahren, beginnt er zu ahnen, dass er kein normales Familienleben kennt. Titch wurde zu den Großeltern abgeschoben, die er vergöttert. Dieser Glaube wird erschüttert, als er erkennen muss, dass Oma und Opa einen erbitterten Kleinkrieg gegeneinander führen.

Auch die Freundschaft mit den gleichaltrigen Dorfkindern John "Dinger" Bellchamber, Peter "Oaky" Oaks und Alexander "Milkey" Freck ist brüchig. Spannungen und nicht nur kindliche Grausamkeiten vergiften den Umgang. Als die junge, psychisch gestörte Jackie sich zu der Runde gesellt, kommt es zum Eklat: Eine alte und abseits lebende Frau wird zur "Hexe" erklärt, der man das Handwerk legen muss. Jackies Maßnahmen werden immer bizarrer und grausamer. Als sie Oaky zu einer absurden Mutprobe aufstachelt und dieser dabei den Tod findet, zieht Titch die Notbremse und beendet diese "Freundschaft".

Doch die Schrecken dieses Sommers haben gerade erst begonnen. Oakys Leiche bleibt verschwunden, ein Wahnsinniger streift durch die Marschen, die Großeltern und der verehrte Onkel hüten düstere Geheimnisse. Titch verliert seine Kindheit spätestens in der Nacht, als eine gewaltige Flutwelle über Tenbridge herfällt ...

Kindheit als Sehnsucht und Irrtum

Wenn der Mensch älter geworden und von den Anforderungen des Alltags zermürbt ist, denkt er gern an die Kindheit zurück. In der nachträglichen Betrachtung scheinen diese Jahre ein Paradies gewesen zu sein, das von unbeschwerter Abenteuerlust und der Abwesenheit lähmender Pflichten und Sorgen geprägt war. Der Übergang zum Erwachsenendasein wird dagegen als Schwelle betrachtet, jenseits derer die ursprüngliche Lebensfreude ihr Ende fand.

Dieser Prozess ist in der Literatur fest verankert. "Coming-of-Age"-Romane nennt man jene Geschichten, die ihn beschreiben. Sie ähneln sich, aber sie werden dennoch gern gelesen, wenn es dem Verfasser gelingt, die Eindringlichkeit der damit verbundenen emotionalen Entwicklung in Worte zu fassen. Garry Kilworth ist bedrückend erfolgreich. Gänzlich anders als beispielsweise Marcel Pagnol in seiner autobiografischen Roman-Trilogie Eine Kindheit in der Provence (1957/59) vermeidet er jegliche Verklärung einer verlorenen Unschuld. Stattdessen entwirft Kilworth eine grimmige Welt, die jegliche Kindlichkeit als Illusion enttarnt.

Der Auftakt ist trügerisch. Tenbridge schildert der Verfasser zunächst als verwunschene Kolonie, die Ruhe vor der Unrast des 20. Jahrhunderts bietet. Die Menschen sind schlicht im Geist. Harte Arbeit prägt ihre Tage, abends geht man früh zu Bett. Traditionelle Strukturen prägen diese Gesellschaft, die harmonisch in sich zu ruhen und das ideale Umfeld für ein einsames Kind wie Titch Swan zu sein scheint.

Das Leben kennt keine Ruhenischen

Umso ernüchternder ist das Erwachen. Die Bürger von Tenbridge sind keine einfach gestrickten, fröhlichen Zeitgenossen, sondern emotional ausgelaugte, engstirnige oder grausame Menschen. Nur allmählich dämmert Titch, dass seine Freunde daheim vernachlässigt, geschlagen oder missbraucht werden. Mitleid will sich nicht einstellen, denn die so Betroffenen geben die erlebte Grausamkeit ungefiltert weiter.

Titch ist nicht direkt betroffen. Dennoch zerfällt auch seine private Welt, als sich die geliebten aber nie verstandenen Großeltern und der flotte Onkel als Betrüger, Lügner und Feigling entpuppen. Nichts bleibt, wie es ist bzw. erträumt wird. Die fidele Jagd erweist sich als grausame Hatz, der zum Baden einladende Fluss als Todesfalle. Durch die Marschen stolpert ein Irrer, der die Leiche einer verschollenen Fliegerin sucht. Außenseiter sind verdächtig, der Volksglaube an schwarze Magie viel zu lebendig. Feindseligkeiten werden vor allem innerhalb der eigenen Familie gepflegt und noch Jahrzehnte nach dem Ausbruch erbittert ausgetragen. Lehrer, Pfarrer und andere Vertreter der Obrigkeit leiten nicht, sondern hüten eigene Privilegien und Vorurteile.

Kinder sind in dieser Welt die Dummen. Ihnen verschweigt man, was sie dunkel ahnen. Titch muss auf die harte Tour lernen, wie die Realität beschaffen ist. Beinahe zerbricht er daran, und es prägt ihn für den Rest seines Lebens. Sicher spricht hier der Autor selbst durch seine Hauptfigur; zu bitter und präzise klingt, was Kilworth sich von der Seele zu schreiben scheint.

Die Schatten der Idylle

Tenbridge ist für das Stadtkind Titch Swan zunächst ein Ort der Abenteuer. Wiederum schleicht sich bald die Erkenntnis ein, dass nur ein Kind so denken kann. Die Einwohner nehmen ihr Leben bestenfalls hin. Wer wie Titches Großtante den Ausbruch wagt, kann und will die Einschränkungen nicht mehr ignorieren, wird dafür aber ausgegrenzt.

Frauen haben in dieser restriktiven Gesellschaft gute Gründe für miserable Laune. Damit der Großvater, der im "Großen Krieg" – dem I. Weltkrieg – ein Bein verlor, noch eine Ehefrau bekam, hatte er sich bei der Werbung zwei Jahrzehnte jünger gemacht; eine List, die ihm die Gattin nie verzieh. Sie hasst die mühselige, stumpfsinnige Plackerei in einem Haushalt, der auch 1952 ohne Elektrizität und fließenden Wasser funktionieren muss, während der Großvater nicht begreift, wieso sie dies unglücklich macht: So war es doch immer!

Die getriebene Jackie legt Feuer an eine ohnehin kurze Lunte. Sie will endlich selbst einmal mächtig sein und zuschlagen. Dass sie die Freundesgruppe zu einer grausamen Hexenjagd aufhetzt und letztlich spaltet, ist ihr einerseits gleichgültig und andererseits zu wenig: Es reicht nicht, um ihre innere Wut zu mildern.

Ein Ende mit Schrecken

Den dramatischen Schlusspunkt setzt die reale Flutkatastrophe, die in der Nacht vom 31. Januar auf den 1. Februar 1953 über die Küsten der an der Nordsee gelegenen Länder kam. Eine zwei Meter hohe Welle stürmte an der englischen Südostküste auf 1600 km Länge ins Land hinein. 24000 Häuser wurden zerstört, 307 Todesopfer beklagt. 30000 Menschen mussten evakuiert werden.

Tenbridge wird (sehr symbolisch) beinahe von der Landkarte gespült. In dieser Sturmnacht endet Titch Swans Kindheit endgültig. Er lässt sie beinahe erleichtert hinter sich. In einem Schlusskapitel fasst der erwachsene Swan sein Leben nüchtern zusammen. Er hat den Sommer von 1953 weder vergessen noch die Folgen jemals überwunden. Ein Stück Tenbridge wird ihn bis an sein Ende begleiten bzw. heimsuchen.

Ein Happy-End bleibt auch in Tenbridge aus. Die Tragödie hat die Bewohner nicht geläutert oder einander nähergebracht. Als die Flut zurückgeht, wird aufgeräumt. Die Opfer beklagt man, dann geht das Leben weiter. Selbst nachdem es sich gravierend geändert hat, wird es nicht zwangsläufig glücklicher.

Ein Lektüre-Kleinod

Erstaunlicherweise ist Hexenwasser trotz des konsequent düsteren Hintergrundtons ein wunderbares Buch. Die Realität wird durch Kinderaugen betrachtet und durch die Erinnerung gefiltert. Das Resultat ist gleichermaßen furchtbar und faszinierend.

Eine ausgezeichnete Übersetzung überträgt diese Wirkung auf die deutsche Fassung. Abseits Tolkien-kopierender Plump-Fantasy oder des aktuell ebenfalls beliebten Torture-Porn-Horrors bietet Hexenwasser ein intensives Leseerlebnis der nachwirkenden Art. Dieser Roman hätte eine Neuausgabe wirklich verdient. Immerhin ist dieser Schatz antiquarisch sowie weder schwer noch teuer zu bergen.

Hexenwasser

Garry Kilworth, Heyne

Hexenwasser

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