Planet der Habenichtse

  • Heyne
  • Erschienen: Januar 1976
  • 4
Planet der Habenichtse
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Almut Oetjen
97°1001

Phantastik-Couch Rezension vonApr 2006

Leben in zwei Welten

Ursula Le Guins "The Dispossessed. An Ambiguous Utopia" ist ein Klassiker der philosophischen Science Fiction. Die Originalausgabe ist 1974 erschienen. Eine deutsche Übersetzung von Gisela Stege wurde 1976 bei Heyne unter dem Titel "Planet der Habenichtse" veröffentlicht, später im Verlag Das Neue Berlin (1987) und im Argument Verlag (1999) (erste ungekürzte Übersetzung: Hiltrud Bontrop). Joachim Körber legte 2006 in der Edition Phantasia auf Grundlage der Arbeit von Hiltrud Bontrup eine Neuübersetzung vor.

Eine Revolution führte dazu, dass die Revolutionäre den Planeten Urras verließen und sich auf dem Urras-Mond Anarres ansiedelten. Auf Anarres wurde ein anarchistischer Gegenentwurf zu Urras umgesetzt, bestimmt durch die Ideale "Freiheit" und "Gleichheit". Der Physiker Shevek reist 170 Jahre später auf Einladung von Wissenschaftlern von Anarres nach Urras. Shevek sucht den wissenschaftlichen Austausch und möchte möglichst viel über Urras und dessen Bewohner erfahren. Auf Urras ist man besonders interessiert an Sheveks Forschungen zur Allgemeinen Feldtheorie der Temporalphysik.

Differenzierte Gesellschaftsporträts

"Die Enteigneten" folgt zwei Erzählsträngen, die beide Sheveks Leben auf Urras und Anarres beschreiben. Shevek hat die theoretisch-physikalischen Grundlagen für die Übertragung von Informationen über beliebige räumliche Distanz ohne zeitliche Verzögerung entwickelt. Auf Urras hofft man, dass die Theorie Sheveks dazu beitragen kann, Raumfahrt ohne Durchquerung des Raums zu erlauben.

Die Erzählung beginnt mit der Reise Sheveks von Anarres nach Urras und wechselt in der Folge kapitelweise zwischen Urras und Anarres, stellt so die Anarchie der spätkapitalistischen Gesellschaft gegenüber. Zu Beginn scheint es in "Die Enteigneten" um den Kampf zweier Systeme, den Kampf zwischen Gut und Böse zu gehen. In der Folge zeigt sich Le Guins Buch dann als ein sehr ausgefeiltes Porträt zweier Gesellschaftsentwürfe:

Urras ähnelt dem kapitalistischen Westen der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts. Die Gesellschaft ist (leicht überzeichnet) bestimmt durch repressive, sozialfeindliche und sexistische Strukturen. Oberste Maxime ist das Gewinnstreben. Hier gibt es keine Mittelschicht mehr, sondern nur noch wenige Reiche und Mächtige und die Masse der Mittellosen.

Anarres ist ein anarchistischer Gegenentwurf. Die Abwesenheit formaler Autorität ist nicht gleichbedeutend mit Freiheit, sondern hat verdeckte Machtstrukturen hervorgebracht. Am Rande beschreibt Le Guin einen dritten Entwurf, das hierarchische Macht- und Kontrollsystem Thu. "Die Enteigneten" ist nicht plakativ, sondern setzt sich sehr differenziert mit den Vor- und Nachteilen der Gesellschaftsentwürfe auseinander.

Neue Sprache

Science Fiction, die eine neue Welt gestaltet, steht immer auch vor dem Problem, eine dieser Welt angemessene Sprache zu entwickeln. Das bekannteste Beispiel ist George Orwells "Neusprech" ("Newspeak") aus "1984", in dem aus politischen Gründen die Sprache so verändert wurde, dass die Kommunikation der Menschen vom "Großen Bruder" leichter zu steuern ist.

Le Guin verwendet in "Die Enteigneten" viel Platz auf die Bedeutung von Sprache für Menschen, auf die Schwierigkeiten, vor denen Anarres bei der Entwicklung einer neuen Sprache gestanden hat, die den Anforderungen des gesellschaftspolitischen Entwurfs genügt und das Bewusstsein seiner Anwender formen soll. Auch in ihrem Roman stellt sich die Frage nach dem Zusammenhang von Sprache und Macht. Die Autorin beschreibt dieses Problem hervorragend am Beispiel des Wortschatzes aus der alten Welt Urras, der mit Besitz zu tun hat, eine Kategorie, die es in Anarres nicht mehr gibt.

Individuum und Gesellschaft

Ein Thema, das den Roman durchzieht, ist der Widerspruch zwischen den individuellen Bedürfnissen und denen der Gesellschaft. So wird Sheveks Arbeit als Physiker kein erkennbarer gesellschaftlicher Nutzen zugewiesen. Und das Schaffen der Künstler in einer Welt, die um das tägliche Überleben ringt, wird in seinem Nutzen noch fragwürdiger gesehen. Eine zentrale Frage, die der Roman hier stellt, ist die, wer nach welchen Kriterien darüber befindet, was gesellschaftlich sinnvoll sein soll.

Die Bewohner der neuen Welt haben die "Gleichheit" aller Anarresti zum Dogma erhoben, dem sie jedoch nicht entsprechen können. Sie sind getrieben durch Neid und Gier, Eigenschaften, die sie auch auf Anarres nicht loswerden können.

"Die Enteigneten" ist ein Buch, mit dem man sich sinnvoll auseinandersetzen kann und das beim wiederholten Lesen neue Perspektiven eröffnet. Seit den siebziger Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts stehen wir Utopien mit Argwohn oder Misstrauen gegenüber. Ursula Le Guin zeigt mit ihrem Roman, dass der weit verbreitete Zynismus, mit dem wir der Hoffnung auf eine bessere Welt allerorten begegnen, wenig zielführend ist. Zwar hat ihr Roman in Momenten Seminarcharakter, dies aber zum Glück nur selten. Insgesamt ist das Buch auch heute noch sehr lesenswert: als einer der differenziertesten utopischen Romane, als ein Roman, der auf beeindruckende Weise Unterhaltung und hohen Anspruch miteinander verbindet.

Planet der Habenichtse

Ursula K. Le Guin, Heyne

Planet der Habenichtse

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