Die Neandertal-Parallaxe

  • Festa
  • Erschienen: Januar 2005
  • 6
Die Neandertal-Parallaxe
Die Neandertal-Parallaxe
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Michael Drewniok
85°1001

Phantastik-Couch Rezension vonFeb 2008

Urzeitmenschen ganz aktuell

Auf einer parallelen Erde des 21. Jahrhunderts haben die Neandertaler* den Homo sapiens abgelöst. Ohne ihre Naturverbundenheit zu verlieren, konnten die einstigen Höhlenmenschen eine auf Wissenschaft und Hightech basierende Zivilisation entwickeln. Ponter Boddit und Adikor Huld gehören zu den führenden Physikern ihrer Welt. In der Stadt Saldak haben sie in einer ehemaligen Mine ein Labor eingerichtet. Hier arbeiten sie intensiv an der Konstruktion eines Quantencomputers.

Während eines Experiments geschieht das Unerwartete: Ein Riss im Raum-Zeit-Kontinuum tut sich auf, durch den Ponter Boddit in ein paralleles Universum geschleudert wird. Zeit und Ort blieben unverändert, doch diese Erde wird von den kahlhäutigen `Gliksins´ bevölkert. Neandertaler gibt es nicht mehr. Ponter ist in einem Neutrino-Observatorium gelandet, das in der Tiefe der Creighton-Mine nahe Sudbury in Kanada angelegt wurde. Sein Erscheinen ist eine Sensation.

Doch wie soll man sich mit dem seltsamen ‚Gast‘ verständigen? Beide Seiten sind guten Willens, doch die Differenzen zwischen den Kulturen sind erheblich. Zudem erhebt die ganze Welt `Anspruch´ auf den Neandertaler. Vor allem die Medien jagen ihn geradezu. Damit ist Ponter, ein Fremder in einer fremden Welt, überfordert. Professor Mary Vaughan, eine Paläontologin, Dr. Reuben Montego und die Physikerin Louise Benoît helfen ihm sich einzuleben, schirmen ihn ab und sprechen ihm Mut zu. Louise meint zudem, dass sich der Riss zwischen den Welten von Ponters Seite erneut öffnen ließe. Das müsste eigentlich auch Adikor Huld erkennen. Tatsächlich versucht es dieser auch, doch zu seinem Pech gilt er als Mörder seines verschwundenen Kollegen. Man stellt ihn vor Gericht und verbietet ihm die Rückkehr ins Labor. Es bedarf einiger weiterer Rechtsverstöße, bis Adikor endlich wieder vor dem Quantencomputer steht und das waghalsige Experiment wiederholt.

(* Ich weiß, der Titel lautet ";Die Neanderthal-Parallaxe"; nichtsdestotrotz schreibt sich ";Neandertaler" nach der neuen Rechtschreibung ohne ";h". Rechtschreiberischen bzw. -haberischen Puristen liefert Sawyer in einem Anhang eine Begründung, wieso er trotzdem vom `Neanderthaler´ spricht.)

Zwei Welten treffen unterhaltsam aufeinander

Ein Mann in einer fremden Welt - Dies ist nicht nur der (deutsche) Titel eines der bekanntesten Werke von Robert A. Heinlein (1907-1988), sondern auch ein Lieblingsthema der Science-Fiction: Aus dem All, aus einer anderen Zeit oder eben aus einem Paralleluniversum kommt ein Fremdling auf unsere Erde. Ungewöhnlich ist vielleicht nicht einmal seine (oder ihre) Gestalt; fremd meint hier: unvertraut mit den menschlichen Sitten und Regeln.

Die Handlung resultiert aus dem gegenseitigen Kennenlernen, das stets mit Missverständnissen und Überraschungen einhergeht. Das beginnt in unserem Fall mit der spektakulären Zweckentfremdung einer Homo-Sapiens-Toilette durch Ponter Boddit und endet noch längst nicht mit den für viele Menschen schockierenden Entdeckungen, dass Neandertaler keine Religion kennen, freiwillig in einem Überwachungsstaat leben oder ein geschlechtsspezifisch undifferenziertes Zusammenleben pflegen (um es neutral auszudrücken).

Der Zusammenprall zweier Kulturen ist faszinierend, komisch und tragisch. `Die Neanderthal-Parallaxe´ benötigt deshalb keine Handlung, die ihre Protagonisten kreuz und quer durch Galaxien jagt. Das Geschehen ist beinahe gemächlich, die Zahl der Figuren bleibt beschränkt. Es gibt keine kosmischen Kriege, niemand stirbt, stattdessen erfolgt die Kontaktaufnahme friedlich, werden ausgiebige Diskussionen politischen, gesellschaftlichen oder philosophischen Inhalts geführt sowie ein bisschen Technobabbel ausgetauscht. Trotzdem ist es spannend zu verfolgen, wie sich die Handlung auf zwei Ebenen bzw. Welten entwickelt, bis sie schließlich in ein gemeinsames Finale mündet. Das Ende der Geschichte ist offen und verrät dem fachkundigen Leser, dass eine Fortsetzung folgen wird. Ein wenig abrupt lösen sich alle Konflikte in Wohlgefallen auf, aber vielleicht ist man als Mensch der realen Gegenwart zu zynisch geworden: Wieso eigentlich kein Happy-End?

‚Unsere‘ Welt wirkt als Kulisse überzeugend, zumal Sawyer sie bzw. ihre Bewohner nur dort in die Handlung einspielt, wo sie für diese relevant sind. Die unterschiedlichen Reaktionen, die Ponters Erscheinen hervorruft, leiten als Schlagzeilen und Kurzmeldungen viele Kapitel ein. Mehr Hirnschmalz investiert Sawyer ansonsten in die Erde der Neandertaler. Hier hat er sich viele exotische Eigenheiten einfallen lassen. Höchst komplex und kein bisschen primitiv ist die ‚naturnahe‘ Lebensweise der wulstbrauigen Altmenschen. Klug eingestreute Details verleihen dem Überzeugungskraft und Farbe; Neandertaler verwenden beispielsweise keine Handtücher, sondern ziehen ihr Badewasser mit Stricken über den stark behaarten Hautpartien ab. Das erscheint logisch, sobald man es gelesen hat, und Sawyer geizt nicht mit ähnlichen Einfällen.

`Die Neanderthal-Parallaxe´ ist Auftakt zu einer Trilogie (s. u.), für die der Autor einigen Aufwand getrieben hat, der uns Lesern in diversen Anhängen (die von Sawyers Website übernommen wurden) nicht vorenthalten wird. Es folgt eine ";Einführung in die Zeitmessung der Neanderthaler". Wer sich über diesen Roman hinaus mit dem Thema Neandertaler beschäftigen möchte (und der englischen Sprache mächtig ist), kann eine ausführliche Liste weiterführender Literatur heranziehen.

‚Grüne‘ Gesellschaft mit bräunlichen Kanten

Wissenschaftler sind auch nur Menschen - diese Meinung vertritt offensichtlich Verfasser Sawyer, der seine Geschichte fast durchweg in Forscherkreisen spielen lässt. Das Ergebnis überzeugt; weder entpuppen sich unsere Protagonisten als `mad scientists´ mit dem Drang zur Weltherrschaft noch verwandeln sie sich ansatzlos in feuerwaffenbepackte Superlinge, die etwaigem Gezücht aus der Fremde Mores lehren. Stattdessen haben wir es mit friedlichen, manchmal überforderten, aber findigen Zeitgenossen zu tun, die ihrem schwierigen, aber erfüllenden Job mit Eifer und Freude nachgehen. (Schon das ist in der globalisierten Gegenwart ein gutes Stück Science Fiction)

Seine eigentlichen Hauptfiguren hebt Sawyer indes deutlicher hervor. Da sind zum einen natürlich die Neandertaler. Ponter Boddit, Adikor Huld und ihre Mitbürger/innen spiegeln trotz Hightech-Zivilisation die Visionen ‚grüner‘ Homo sapiens-Stammesmitglieder wider, die da glauben, die ‚Unschuld‘ der Urzeit könne irgendwie in die menschliche Gegenwart übertragen werden: Technik im Einklang mit Mutter Natur. Sawyers Neandertaler haben das geschafft, doch lässt der Verfasser keinen Zweifel daran, dass dafür ein hoher Preis zu zahlen sein könnte: Das parallelweltliche Paradies gleicht einem Polizeistaat, der seine Bürger - oder Untertanen - rund um die Uhr überwacht. Das erscheint der Mehrheit gut und richtig, aber es gibt Andersdenkende B zum Beispiel die Familienangehörigen überführter Verbrecher, die wie der Täter als genetisch ‚entartet‘ und damit potenziell gefährlich gelten und zwangssterilisiert werden.

Diesseits des Dimensionsrisses wird Mary Vaughan zur zentralen Menschenfigur. Just ist sie auf dem Campus ihrer Universität vergewaltigt worden. Die daraus resultierenden psychischen Probleme prägen ihr Denken und Handeln und damit diese Geschichte entscheidend mit. Dabei übertreibt es der Verfasser manchmal und verliert die eigentliche Handlung aus den Augen. Das ist ohnehin das Hauptproblem dieses Romans: Sawyer neigt zum Predigen, lässt seine Figuren endlos über Ethik, Religion, Politik und andere Themen diskutieren. Zur Differenzierung der Welten hüben und drüben ist das gerechtfertigt, aber es sollte besser in die Handlung integriert werden. (Anmerkung: Gerät die Unterhaltung auf sexuell geprägte Themen, wird `nun ja, öhA zur beliebtesten Einschubphrase der deutschen Übersetzung B bis man es wirklich nicht mehr lesen kann!)

Das Trauerspiel - ein Nachtrag

Dem deutschen SF- und Fantasy-Publikum gefiel ";die Neanderthal-Parallaxe" offensichtlich weniger gut als Tolkien-Klon Nr. 1050 oder jene ";Jawoll, Sir"-Bumm-Dumm-Weltraumopern, die über deutsche Buchhandlungs-Tische wuchern. Auf eine Fortsetzung oder gar die Vervollständigung der Trilogie dürften wir deshalb lange und vergeblich warten.

Die Neandertal-Parallaxe

Robert J. Sawyer, Festa

Die Neandertal-Parallaxe

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