Paradiese, Übersee

  • Fischer
  • Erschienen: Januar 2003
  • 0
Paradiese, Übersee
Paradiese, Übersee
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Almut Oetjen
84°1001

Phantastik-Couch Rezension vonApr 2010

Nur wenig von der Welt gesehen

Am Vorabend des 22.12. gehen ein mittelalterlicher Ritter mit Pferd und ein moderner Pauschalist mit Diktiergerät in Kalkutta von Bord eines Schiffes. Sie werden begleitet von einem 300 Jahre alten Hund, der von seinem Besitzer, dem Schiffskoch, nicht als Gefährte, sondern als Notration angesehen wurde und sich deshalb absetzen möchte. Der Pauschalist hat einen beachtlichen Teil der Welt bereist auf der Suche nach einem Dr. Stoliczka. Die Suche wird in Indien fortgesetzt und irgendwann umgelenkt auf die Jagd nach dem wertvollen Fell der Berbiolette, an der weitere Personen beteiligt sind.

Felicitas Hoppe erzählt in "Paradiese, Übersee" ein Märchen, dessen Helden sich auf die Suche nach einem Schatz und einem Ort im Leben begeben. Der erste Teil lässt die Suche in Kalkutta beginnen, im zweiten Teil befinden wir uns in den Ardennen, im dritten wieder in Indien, von wo der Weg an die Mosel und in einer Floßfahrt nach Hause führt. Die Helden sind überall auf der Welt und gleichzeitig im globalen Dorf. Das Abenteuer ist ein dem Zeitalter der Globalisierung gemäßes. Der klapprige Gaul, ein weiterer Held der Geschichte, heißt Schengen - ein jedem EU-Bürger bekannter Name, ein Ort in Luxemburg, wie die meisten Orte, die im Roman genannt werden.

Zu Beginn des Romans antwortet der Hund auf eine Frage des Ritters, er habe von der Welt nur wenig gesehen und wolle alles sehen. Am Ende richtet der Ritter die Frage an eine andere Figur und erhält eine überraschende Antwort.

Die Zahl Drei

Die Dreiheit ist eine im Märchen häufig vorkommende Zahl: drei Prüfungen sind zu bestehen, ein König hat drei Söhne oder Töchter, die gute Fee erfüllt drei Wünsche, in "Schneewittchen" besucht die Stiefmutter dreimal die Zwerge. Hoppes Roman ist in drei Teile gegliedert, es gibt drei Geschwister, der Hund zählt drei mal hundert Jahre. Von drei Bestien ist die Rede, dem Wolf, dem Wildschwein und dem Wurm. Auch von drei standhaften Jungfrauen. Die drei Räuber sind mit drei Arten von Waffen ausgerüstet, Heugabeln, Stöcken und Gewehren. Drei Welten treffen aufeinander, die des Mittelalters, die der Gegenwart und die der Phantasie.

Das Märchen vom Hasen und Igel, in dem der Hase den Wettlauf verliert, weil der Igel (bzw. seine Frau) immer schon am Ziel ist, wenn der Hase ankommt, rührt Hoppe einmal kräftig um. Der Pauschalist will Dr. Stoliczka immer wieder an einem neuen Zielort treffen, aber sobald er dort ankommt, ist der Doktor schon wieder weg. Er ist nicht zu fassen, taucht aber schließlich auf, wo man ihn nicht vermutet. Der Pauschalist trägt ein Foto mit sich, auf dem zwei Personen abgebildet sind, von denen eine Stoliczka sein soll. Als er den Doktor sieht, erlebt er eine Überraschung. Über den Doktor wie auch die Berbiolette, die ihn später als Ziel der Suche ersetzt, existieren viele Gerüchte. Niemand hat die Berbiolette bisher gesehen, das wertvollste Tier der Welt, aber einer glaubt schließlich doch, ihr Fell zu erkennen, an einem Ort und an einer Person, wo man es nicht vermutet hätte. Doch wie kann er sicher sein? Weiß er doch nicht wirklich, wie es aussieht. Selbst im Handbuch der Zoologie ist es nicht abgebildet.

Das Große im Kleinen

Vom großen Philosophen Spinoza oder vom kleinen Prinzen wissen wir, dass jeder Tropfen Wasser die Idee des Meeres enthält. Hoppe erzählt in ihrem Roman keine zusammenhängende und in sich widerspruchsfreie Geschichte. Sie erzählt eine große Geschichte, die aus lauter kleinen Geschichten besteht, in denen die große in unterschiedlichen Qualitäten enthalten ist.

Es gibt sehr schöne und reizvoll konstruierte kleine Geschichten. Manche Textstellen werden in anderen Zusammenhängen wiederholt, teilweise wörtlich. So entsteht im Kopf des Lesers das Bild eines Märchenteppichs, auf dem Motive sich wiederholen, Teile von Motiven in andere Motive eingehen und Motive in Details verändert werden.

Ein Ritter, ein Pauschalist, ein klappriger Gaul, ein sprechender Hund, die Suche nach einem Mann, der immer weg ist, wenn man ankommt, die Suche nach dem wertvollsten Fell der Welt, dem Fell eines Tieres, von dem niemand weiß, wie es aussieht und ob es überhaupt existiert. Menschen, die ihre Heimat in einer Welt suchen, die ortlos und zeitlos anmutet. Stellt man die Frage nach dem Sinn, verhält es sich mit diesem wie mit Dr. Stoliczka: immer, wenn der Leser oder die Leserin auf der Sinnsuche am Ziel angekommen ist, ist der Sinn schon wieder weg. Oder war er nie da? Oder sieht er ganz anders aus, als wir ihn uns vorstellen? Wer Lust auf dieses "Spiel" hat, wird das Buch mit Gewinn lesen.

Paradiese, Übersee

Felicitas Hoppe, Fischer

Paradiese, Übersee

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