Entsorgt

  • Heyne
  • Erschienen: Januar 2010
  • 4
Entsorgt
Entsorgt
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Michael Drewniok
70°1001

Phantastik-Couch Rezension vonJun 2010

Wenn der Müll lebendig wird

Shreve ist eine gesichtslose Stadt irgendwo in den englischen Midlands. Die einzige ´Sehenswürdigkeit´ bildet eine gewaltige Müllkippe, auf der die Abfälle des gesamten Landkreises gesammelt werden. Korruption und Gleichgültigkeit führen dazu, dass kaum kontrolliert wird, was da täglich (und vor allem heimlich in der Nacht) angeliefert wird. Tief im Boden schwappt daher eine giftige aber unheilvoll fruchtbare Suppe, in der organische und anorganische Elemente seltsame Verbindungen eingehen.

Eines Tages ist es soweit: Ausgerechnet in Shreve gelingt die abiogenetische Urzeugung bisher unbekannten Lebens. Aus Unrat und Schrott entstehen formlose aber bewegliche, instinktgesteuerte und hungrige Kreaturen. Sie ernähren sich von Blut und sind ständig damit beschäftigt, ihre Mischkörper zu modifizieren und zu verbessern. Bei guter Ernährung wachsen sie schnell - und sie sind intelligent, wie der Einsiedler Mason Brand zufällig herausfindet, als sich eines Abends eines der Wesen in seinen Garten verirrt. Statt es zu töten, nimmt es der neugierige Mann auf, füttert und versteckt es. Ungestört kann der "Fäkalith" sich entwickeln; er nimmt sich dabei seinen ´Vater´ zum Vorbild.

Andere Bürger begegnen den Artgenossen des Fäkalithen. Ohne Schutz und Förderung mutieren diese zu fressgierigen, aggressiven Ungeheuern, die unvorsichtigen Haustieren und bald auch Wanderern auflauern. Als der Fäkalith seine Entwicklung abgeschlossen hat, schwingt er sich zum Anführer auf. In seinem Auftrag fallen die Kreaturen über Shreve und seine Einwohner her. Sie säen Angst & Schrecken, und sie nutzen den Rohstoff Mensch mit nie gekanntem Einfallsreichtum. Die Außenwelt wird aufmerksam, Militär marschiert auf. Unbarmherzig werden Müll-Monster und ´infizierte´ Menschen ausgelöscht, ohne dem Phänomen auf den Grund zu gehen - das typisch grobe Vorgehen eines Establishments, dem dadurch entgeht, dass es dem bizarren Gegner in die Hände bzw. Tentakeln arbeitet ...

Horror der wahrhaft schmutzigen Art

"Geld stinkt nicht", wies der römische Imperator Vespasian (9-79 n. Chr.) Kritiker in die Schranken, als er ausgerechnet die öffentlichen Toiletten mit einer Latrinensteuer belegte. Sein Plan war ebenso einfach wie genial, sodass er aufgehen musste: Der Mensch kann nicht existieren, ohne Dreck zu verursachen, um den er sich - dies ist der nächste logische Gedankenschritt - tunlichst nicht selbst kümmern möchte.

Was stört, wird ausgelagert. Wer sich in dieses anrüchige Geschäft wagt, lässt sich gut dafür bezahlen. Der Profit steigt, wenn man nicht genau hinschaut, was die Kundschaft heranschafft, sondern es einfach dort stapelt oder vergräbt, wo es aus den Augen und damit aus dem Sinn gerät.

Leider bleibt der richtig gefährliche, grässliche Dreck oft nicht dort. Ungestört sickert er ins Erdreich, ins Grundwasser, verseucht Pflanzen und Tiere und landet letztlich doch wieder bei seinen Verursachern. Joseph D'Lacey dreht diese Schraube einige Windungen weiter und erfindet einen Müll, der sich seiner fauligen Haut zu wehren beginnt. Da es seiner Natur entspricht, geht er (der Müll, aber auch D´Lacey) dabei überaus garstig zu Werke.

Wer sich fragt, was damit gemeint ist, wird im letzten Drittel des hier vorgestellten Romans so offen ins Bild gesetzt, dass keine Frage mehr, sondern nur noch Übelkeit bleibt. Autor D'Lacey hat sich viel Mühe gegeben und tief im Wortschatz seiner Sprache geschürft, um die blutigen Exzesse kotig-brandiger Schreckgestalten möglichst anschaulich zu schildern. Vom Ehrgeiz gepackt, blieb ihm der Übersetzer nichts schuldig.

Die Stadt als Spiegelbild der Müllkippe

Obwohl man es angesichts der bizarren Handlung weder erwarten würde noch es zunächst bemerkt, hat diese Geschichte eine Moral. D'Lacey hat gelernt und serviert sie den Lesern nicht mehr wie in seinem Romanerstling "Meat" mit der ganz groben Kelle. Gesellschaftskritik wird geübt, aber D'Lacey ordnet sie dieses Mal seiner Geschichte unter.

Der "Garbage-Man"-Horror setzt ähnlich schleichend und trügerisch ein wie ein weicher Furz. (Dieser Roman erzwingt solche Assoziationen.) Die halbe Geschichte vergeht für den Leser mit dem Kennenlernen immer neuer, generell unsympathischer Figuren und ihrer banalen, abstoßenden Geheimnisse. Immer lauter fragt man sich, wann dies endet und endlich der Horror beginnt.

Erst allmählich schält sich D'Laceys Intention heraus: Müllkippe und Stadt Shreve bilden Spiegelbilder, wobei der eigentliche Schrecken zunächst nicht von der Gift-Deponie ausgeht. In der Stadt ist das Leben aus den Fugen geraten. Sämtliche Figuren sind kriminell, psychisch gestört, ausgebrannt oder stecken in einer anderen Sackgasse fest. Nicht nur die Abfälle, die sie täglich verursachen, finden ihren Weg auf die Kippe. Hinzu kommt emotionaler Ballast, der das ohnehin geschädigte Erdreich zusätzlich tränkt.

Auf diese Weise schaffen die Menschen sich ihre Monster selbst. Als der Müll seine Kreaturen freigibt, sind diese zwar gefährlich aber nicht bösartig. Sie wollen nur leben, und dafür müssen sie fressen. Erst im Laufe ihrer Entwicklung verändern sie sich. Sie bauen ihre Körper und Hirne mit weiterem Unrat auf. Unabsichtlich verleiben sie sich dabei noch mehr Negatives aus Menschenhand und -hirn ein, was nicht folgenlos bleibt: Die Kreaturen wachsen, sie werden intelligent - und aggressiv.

Müll mit Mission?

An diesem Punkt weicht D'Lacey leider von seiner fröhlich-anarchischen Linie ab. Der lebende Müll entsteht nicht einfach. Er wird von Gäa, der personifizierten Mutter Erde, ins Leben gerufen. Gäa hat die Nase voll von den schmutzigen Umtrieben der Menschen, die ihre ´Haut´ mit Abfällen und Giften aller Art besudeln. Sie wirft die Evolutions-Maschine an und schafft den Fäkalithen und seine Brut.

Mit dieser Idee gerät "Entsorgt" auf ein unerquickliches Nebengleis. Die Story verträgt so, wie D'Lacey sie erzählt, keinen Ernst. "Entsorgt" ist dem "Toxic Avenger" des Trash-Filmstudios Troma zu nah. Als der Verfasser seinem Garn eine Botschaft unterlegen will, macht er sich unnötig lächerlich. Grober Horror und esoterisches Fein-Gefasel vertragen sich nicht, weshalb man die entsprechenden Passagen am besten nur überfliegt, ausblendet und sich auf die rabiaten Szenen konzentriert, für die der Verfasser ein weitaus besseres Händchen hat.

P. S.: Das Cover-Zitat "Joseph D'Lacey rocks", angeblich gesprochen von Stephen King, sollte der Leser mit der angemessenen Nichtachtung solcher Plump-Werbung strafen; es findet sich genauso bereits auf dem Cover von "Meat", D'Laceys Roman-Erstling (der übrigens gar nicht rockt).

Entsorgt

Joseph D´Lacey, Heyne

Entsorgt

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