Rattentanz

  • Ullstein
  • Erschienen: Januar 2010
  • 3
Rattentanz
Rattentanz
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Andreas Kurth
70°1001

Phantastik-Couch Rezension vonJul 2010

Ohne Computer herrschen Angst und Schrecken

Was würde passieren, wenn ohne Vorwarnung die Stromversorgung auf der ganzen Welt ausfällt und alle Computer zeitgleich zusammenbrechen? Schließen sich die Menschen solidarisch zusammen und helfen einander durch die schweren Zeiten? Oder regieren plötzlich Egoismus und Selbstsucht? Diese überaus spannenden Fragen beantwortet Michael Tietz schonungslos und offen. Und der Autor geht in seinem Erstlingswerk keineswegs zimperlich mit den Menschen und ihren Reaktionen auf das überraschende Desaster um. Es gibt spontane Lynchjustiz an arglosen Polizisten, massenhafte Plünderungen in Banken und Geschäften, Mord und Totschlag greifen anarchisch um sich - die Menschen leben plötzlich in Angst und Schrecken. Tietz präsentiert seinen Lesern zeitweise ein Actionfeuerwerk - und nicht nur der beschauliche Südschwarzwald wird dabei zur Mördergrube. Aber es gibt auch individuelle Horror-Erlebnisse oder Folge-Katastrophen, die fast beiläufig erzählt werden.

Trauma und Ungewissheit

Wie jeden Morgen fährt die Krankenschwester Eva Seger zur Arbeit in das 30 Kilometer entfernte Donaueschingen. Ihr Mann ist in der Nacht zuvor zu einer seiner regelmäßigen Dienstreisen nach Schweden aufgebrochen. Als um Punkt 7 Uhr der Strom ausfällt, glauben alle an ein regionales Phänomen. Dabei haben alle Computer weltweit ihren Dienst eingestellt. Ursache ist ein Virus, den zwei Schüler in das Computersystem ihrer Schule eingeschleust haben, um ihre schlechten Noten zu kaschieren. Die Aktion hat fatale Folgen, denn durch einen Fehler der beiden aktiviert sich der Virus nach 400 statt 40 Tagen - und ist so bereits weltweit verbreitet. Über Evas Heimatdorf Wellendingen stürzen - wie überall auf der Welt - Flugzeuge vom Himmel. Die öffentliche Ordnung bricht komplett zusammen, was in Städten und Ballungsräumen zu katastrophalen Zuständen führt.

Auf dem Lande kehren die neuen Verhältnisse bei vielen Menschen ungeahnt Gutes hervor, aber auch überaus dunkle Charaktereigenschaften. Eva erlebt den Zusammenbruch im Krankenhaus als traumatische Erfahrung. Nach Tagen versucht sie in einer völlig aus den Fugen geratenen Welt endlich in ihr Heimatdorf zurückzukehren. Sie hat 30 Kilometer ungewisse Wegstrecke vor sich. Anders geht es da ihrem Ehemann Hans, der nicht nur die Ostsee überqueren muss, um wieder zu Frau und Kind zu kommen. In Wellendingen schottet sich die Gemeinschaft - wie in allen kleinen Städten und Dörfern - nach außen ab. Aber im Innenverhältnis ist Solidarität für viele ein Fremdwort. Und so nehmen die Ereignisse ihren Lauf - und mehr soll hier nicht verraten werden.

Auch wenn der Roman ein paar Längen hat und etliche Seiten kürzer sein könnte, ist das Erstlingswerk von Michael Tietz ein spannender Endzeit-Thriller. Die Figur des geistesgestörten Thomas Bachmann, der im Krankenhaus-Fahrstuhl eingeschlossen wird und später eine wichtige Rolle spielt, ist hochinteressant. Allerdings könnten seine Wahnvorstellungen ruhig ein paar Seiten kürzer ausfallen. Überhaupt hat sich der Autor an der einen oder anderen Stelle festgebissen, wo die Schilderung knapper sein dürfte. 200 Seiten weniger als die vorgelegten 800, hätten es auch getan. Nicht jeder kann gleich - wie Altmeister Stephen King - 1200 Seiten mit Spannung füllen. Überhaupt scheint King das Vorbild des Autors zu sein, allerdings erreicht er nicht annähernd die sprachliche Virtuosität des Altmeisters. Positiv fallen die kurzen Abschnitte ins Gewicht, in denen - immer wieder eingestreut - mit lapidaren Worten Ereignisse irgendwo auf der Welt geschildert werden, die dank mangelnder Kommunikation keine Beachtung finden. So gibt es beispielsweise in Japan ein Erdbeben mit Tausenden von Toten, aber niemand bekommt es außerhalb des Landes mit.

Breite Palette an Charakteren

Tietz präsentiert höchst unterschiedliche Charaktere, was letztlich den Reiz des Romans ausmacht. Da sind die Pflichtbewussten, die sich selbstlos in den Dienst der Gemeinschaft stellen. Da sind die Gleichgültigen, die erst zur Mitarbeit gezwungen werden. Da sind die Machtgeilen, die aus der neuen Situation vor allem eigenen Macht- und Bedeutungszuwachs ziehen wollen. Und da sind die Skrupel- und Hemmungslosen, die jeglichen Anstand über Bord werfen, und ohne Rücksicht rauben und töten. Manche erleiden still die Katastrophe und verhungern schließlich unbeachtet am Straßenrand, andere werden überfallen, vergewaltigt, ausgeraubt und ermordet. Allein schon der Facettenreichtum des alltäglichen Horrors macht das Buch lesenswert.

Vor allem aber führt die Lektüre dazu, dass der Leser über den Realitätsgehalt des Buches nachdenkt. Wie abhängig sind wir tatsächlich von der Computersteuerung unseres täglichen Lebens? Was geht noch ohne die elektronischen Gehirne? Was passiert, wenn Strom und Kommunikation plötzlich dauerhaft ausfallen? Der Rückfall in archaische Agrargesellschaften könnte in der Tat so ähnlich ablaufen, wie von Tietz geschildert. Und so kann sich jeder Leser ausmalen, wie ihn ganz persönlich der alltägliche Horror treffen würde.

Rattentanz

Michael Tietz, Ullstein

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