Die Brücke über den Saturn

  • Goldmann
  • Erschienen: Januar 1972
  • 0
Die Brücke über den Saturn
Die Brücke über den Saturn
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Michael Drewniok
70°1001

Phantastik-Couch Rezension vonJun 2023

Tor in eine trügerisch alternative Existenz

Zunächst wird es in England gefunden und sorgt für wenig Aufmerksamkeit: das „Unbekannte elliptische Prismoid“ (UPE). Allerdings herrscht in diesen 1970er Jahren ein gewisser Grundverdacht, weil es ein Spionagegerät oder gar eine Waffe der feindlich im Osten lauernden Sowjet-Teufel sein könnte. Das UPE landet im Waffenforschungs-Institut des britischen Verteidigungsministeriums, gelegen in Brierley, Grafschaft Hertfordshire, wo sich John Carson und seine Mitarbeiter daran machen, sein Geheimnis zu lüften.

Der Versuch ist vergeblich, weil sich das Objekt nicht öffnen und nicht einmal durchleuchten lässt. Die Hülle ist unverwüstlich - und der Kontakt nicht ungefährlich: Berührt ein Pechvogel das UPE an einer bestimmten Stelle, löst er sich in einem grellen Blitz sowie in Nichts auf. Dies geschieht mehrfach, ohne dass die dennoch fortgesetzte Untersuchung Fortschritte machen würde.

Nach einiger Zeit tauchen die vom UPE ‚gelöschten‘ Personen wieder auf. Sie werden intensiv befragt, können oder wollen aber nicht offenbaren, was ihnen zugestoßen ist und wo sie sich aufgehalten haben: Ihnen fehlen nach eigener Auskunft buchstäblich die Worte dafür - eine ‚Erklärung‘, mit der sich Geheimdienst und Militär selbstverständlich nicht zufriedengeben.

Als Carson eines Tages ein wenig zu sorglos mit dem UPE hantiert, erwischt es auch ihn. Scheinbar erwacht er in der ihm bekannten Welt. Allerdings stellt er bald Brüche und Ungereimtheiten fest, die sich allmählich zu dieser Gewissheit verdichten: Carson wurde in eine alternative Gegenwart versetzt, in der die Logik anderen Naturgesetzen gehorcht bzw. von einer außerirdischen Macht gesteuert wird. Während er sich bemüht, die UPE-‚Schöpfer‘ zu stellen, ohne dabei seinen Verstand zu verlieren, wird Carson immer tiefer in die Geschicke dieser neuen, zunehmend bizarrer werdenden Welt verstrickt …

Die Macht der Illusion

„Die Brücke über den Saturn“ ist ein ‚Spätwerk‘ des 1961 geborenen Autors Charles Eric Maine, der eigentlich David McIlwain hieß. ‚Spätwerk wird hier in Anführungsstriche gesetzt, weil sein Leben und damit seine Schriftstellerzeit kurz blieb und bereits 1981 endete. Maine war McIlwains Pseudonym für seine phantastischen Werke, die nur selten Klassikerstatus erreichten, aber durchaus einfallsreich ausgedachte sowie kompetent umgesetzte Unterhaltung boten. „Die Brücke über den Saturn“ würde heute wahrscheinlich eine Seitenstärke von mindestens 500 Seiten aufweisen oder gar eine Serie starten. In dieser guten, alten Zeit (= 1972) war es jedoch möglich (oder sogar üblich), eine gute Idee in weniger als 200 Seiten durchzuspielen, um sich dann einem anderen Thema zu widmen.

In der Rückschau wirkt Maines Konzept nicht zwingend. Die Vorstellung einer ‚alternativen‘ Gegenwart, die einerseits recht deckungsgleich mit der bekannten Realität ist, während sich andererseits interessante Gegensätze auftun, wurde von der Phantastik - hier vor allem in Comic und Film bzw. TV-Serie - so oft aufgegriffen, dass Klischees entstanden und Ermüdungserscheinungen auftraten. Schon zu Maines Lebzeiten gab es SF-Autoren wie Philip K. Dick, Brian W. Aldiss oder Daniel F. Galouye, die sich des Themas wesentlich innovativer annahmen. Allerdings konnte Maine in einem Punkt dagegenhalten: Obwohl sich die Realität ‚auflöst‘, bietet „Die Brücke über den Saturn“ stringentes Erzählhandwerk, das viele Leser den stilistischen Experimenten ‚moderner‘ Verfasser vorzogen.

Maine weiß diese sachliche, scheinbar dokumentarische Darstellung sehr wohl zu nutzen, als er sie mehr und mehr ins Imaginäre und Ungewisse umschlagen lässt. „Die Brücke über den Saturn“ beginnt ‚gemächlich‘ im Stil jener Science Fiction, die den britischen Menschen zweckorientiert und unter Wahrung der berühmten „steifen Unterlippe“ auf jede Apokalypse reagieren lässt. H. G. Wells hatte 1898 mit „Krieg der Welten“ den Tenor vorgegeben, und Landsmänner wie John Christopher oder John Wyndham griffen dies später auf.

Verloren dort, wo das System korrumpiert wird

Obwohl die westliche Welt sich Anfang der 1970er im Kalten Krieg mit dem „Ostblock“ befand, bleibt man daher gelassen, als ein merkwürdiges Artefakt in England auftaucht. Strikt nach Vorschrift begeben sich auch sonst wenig aufgeregte Wissenschaftler an ihre Arbeit, während Militär und Regierung abwarten und die Medien konspirativ schweigen: herrliche Zeiten für angepasste, konservative Systembefürworter, weshalb John Carson sich in erster Linie über sein rudimentäres Liebesleben und alltägliche Arbeitsroutinen ärgert, während das UPE erst dann für Aufregung sorgt, als es auf seine Umwelt bzw. die Manipulationsbemühungen der Wissenschaftler zu reagieren beginnt.

Zunächst nicht nur für Carson, sondern auch für die Leser kommt es zu einem Bruch. Es dauert, bis sich die Erkenntnis zu verdichten beginnt, dass die Welt, in der sich Carson wiederfindet, nicht die Welt ist, aus der ihn das UPE gerissen hat. Weiterhin bleibt Maine auf klassischen Pfaden: Der gestrandete Wissenschaftler beginnt auf eigene Faust zu ermitteln. Die Vorschriften und damit den Kontakt mit Kollegen und Vorgesetzten sucht er nicht, weil er begreift, dass er sich nur einer weiteren Illusion aussetzen würde. Als Carson später in die ‚echte‘ Realität zurückkehrt, bleibt er vorsichtig, denn er weiß, dass die Macht hinter dem UPE auch hier präsent ist.

Worauf kannst du dich verlassen, wenn man dir das Fundament deiner Weltanschauung nimmt? Stück für Stück treibt Maine Carson tiefer in eine Parallelwelt, die sich als Netz einer multiversellen Realität erweist, deren Verständnis den menschlichen Geist überfordert. Sämtliche Fixpunkte sind in Bewegung, verändern oder lösen sich auf.

Wer steckt dahinter?

Nie gelingt es Carson wirklich zu begreifen, was vorgeht. Er will auch gar nicht auf eine höhere Bewusstseinsebene gelangen, obwohl ihm dies angeboten wird. Carson zieht ein Dasein als normaler Mensch vor, woran die Macht im Hintergrund letztlich scheitert. Bis es soweit ist, jagt sie Carson durch ein Spiegelkabinett sich stetig verändernder Möglichkeiten.

Dies sind die Passagen, in denen Maine an den Rand seines schriftstellerischen Potenzials gerät. Ihm gelingen durchaus eindrucksvolle Szenen und Bilder, die er aus heutiger Sicht jedoch aufweicht und entwertet, indem er die Auflösung der realen Gegenwart vor allem gleichsetzt mit der Überwindung ‚altmodischer‘ Moralvorstellungen. „Die Brücke über den Saturn“ entstand im „Swinging London“ der Hippie-Ära. Maine glaubt deshalb Passagen einflechten zu müssen, die eine ‚freie‘ Liebe = promiskuitiven Sex thematisieren, jedoch entweder lächerlich missraten wirken oder inzwischen gesetzlich geahndet würden.

So wirkt diese Geschichte eher irritierend als einleuchtend. Maine kann Realität und Wahrscheinlichkeit unterhaltsam miteinander verwirren, vermag jedoch nicht die dem zugrundeliegende Story herauszuarbeiten. Die Ungewissheit des tatsächlichen Geschehens ist ihm wichtig, aber es genügt nicht, sich in Andeutungen zu erschöpfen. Zwar mögen die zeitgenössischen SF-Autoren des „New Age“ dies als übliches Stilmittel eingesetzt haben, doch Charles Eric Maine gehört definitiv nicht zu ihnen; er vermag nicht zu vermitteln, was genau er uns erzählen will. (Ratlos war offenbar auch der deutsche Verlag, der das Buch mit diesem völlig absurden Untertitel versah: „Das Geheimnis einer Welt, in der sich Lebewesen in kristalline Monaden zurückverwandeln können.“)

Fazit:

Das Universum entpuppt sich als Multiversum, was den menschlichen Geist überfordert und die Hauptfigur in einen Strudel kaum oder gar nicht ‚logischer‘ Ereignisse zieht. Ungeachtet vieler Einfälle will der Plot sich nicht zu einem plausiblen Finale krümmen und leidet unter altmodisch geronnener ‚Modernität‘: Dank eines kompetenten Verfassers immerhin interessant.

Die Brücke über den Saturn

Charles Eric Maine, Goldmann

Die Brücke über den Saturn

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