Wolfskinder
- Bastei-Lübbe
- Erschienen: Januar 2011
- 6
Sie lauern nicht unerkannt unter uns
Im Wald findet der gescheiterte Musiker Lennart Cedarström einen lebendig begrabenen Säugling. Er rettet das kleine Mädchen, das seine Aufmerksamkeit erregt, weil es nicht schreit, sondern glockenreine Töne ertönen lässt: Das Kind verfügt über die absolute Stimme.
Cedarström sieht seine Chance zur triumphalen Rückkehr in die Musik. Er beschließt, das Mädchen - dem später der Sohn Jerry den Namen "Theres" geben wird - quasi zu adoptieren, seine Existenz jedoch den Behörden zu verheimlichen, es von der Außenwelt zu isolieren und zu einer perfekten Sängerin zu dressieren.
Wie üblich beugt sich Cedarströms labile Lebensgefährtin Laila ihm, zumal sie Theres allmählich liebgewinnt. Das ist keineswegs einfach, da dieses Kind kaum Emotionen an den Tag legt und stets wörtlich nimmt, was man ihr sagt. Auf diese Weise können ihre ´Eltern´ sie zwar kontrollieren, doch sie ziehen ein gefühlskaltes Wesen heran, das eines Tages ihr Verderben wird.
Anderenorts wächst die junge Teresa heran. Sie ist ein einsames, unglückliches Kind, das von ihren Eltern nicht verstanden und von den Klassenkameraden gemobbt wird. In Theres, die inzwischen bei ihrem ´Bruder´ Jerry lebt, meint sie eine verwandte Seele zu erkennen. Auf ihre verquere Art will Theres tatsächlich helfen. Gemäß ihrer Philosophie ist des Todes, wer sie bedroht. Diese Lehre gibt sie an Teresa und eine wachsende Schar junger Mädchen weiter, die ebenfalls Außenseiter sind.
Ihr Gesangstalent gibt Theres die Möglichkeit, möglichst viele ´Feinde´ an einem Ort zu versammeln. Ein öffentlicher Bühnenauftritt soll ihr und ihrem ´Rudel´ die Möglichkeit geben, es der gleichgültigen Gesellschaft heimzuzahlen ...
Unter trügerisch ruhiger Oberfläche
Seit jeher werden viele Köpfe über der Frage zerbrochen, wann oder gar ob der Mensch ´zivilisiert´ geworden ist. Man kann es angesichts spektakulärer technischer oder wissenschaftlicher Leistungen glauben, und auch das Element der Nächstenhilfe wird erkennbar, wenn sich mit Milchpulver und Aspirin beladene Flugzeuge und Lastwagen dorthin auf den Weg machen, wo sich wieder einmal ein Erdbeben oder eine Flut ausgetobt haben.
Doch die Antwort auf genannte Frage sowie die Definition von Zivilisation gestaltet sich schwieriger, wenn man nicht die Ausnahme, sondern den gesellschaftlichen Normalzustand als Maßstab nimmt. Hier hat der Barbar im Menschen auch im 21. Jahrhundert offensichtlich mehr als eine Nische gefunden. Sein Wirken wird verwaltet, gemaßregelt und verschwiegen, er ist aber präsent und springt hervor, wenn allzu großer Druck die Grenzen seines Territoriums sprengt.
John Ajvide Lindqvist schrieb und veröffentlichte "Wolfskinder" 2010 und damit ein Jahr vor dem Amoklauf des Anders Behring Breivik, der in Oslo und auf der norwegischen Ferieninsel Utøya 77 Menschen umbrachte. Zwischen Buch und Amoklauf gibt es somit keine direkte Verbindung, und man sollte mögliche Parallelen weder überbewerten noch nachträglich auf das Romangeschehen projizieren. In einem Punkt gibt es allerdings eine echte Überschneidung. Zwar sind seine "Wolfskinder" nicht politisch motiviert und verblendet, doch sie sie geraten in einen Teufelskreis, die sie in ihrer eigenen, verzerrten Welt isoliert, wo sie die Signale der Realität zunehmend falsch interpretieren, ihren Zorn und ihrer Frustration aufstauen und schließlich in mörderischer Gewalt explodieren.
Die Fremden unter uns
Das Verdrängen und Unterpflügen nicht gesellschaftskonformer Individuen ist ein düsteres Erbe aus uralter Zeit: Wer nicht mit der Meute heulen kann oder will, wird von ihr verschlungen. Die Mehrheit geht schweigend unter. Manchmal lassen die Umstände eine Theres oder eine Teresa (oder einen Breivik) entstehen. Diesem Mechanismus, dem "Drehen der Schraube", wie Henry James es bereits 1898 bildhaft in Worte fasste, geht Lindqvist auf den Grund. Das Ergebnis ist ein Horror-Roman, gegen dessen realistische Schrecken kein Zombie und kein Vampir ankommen.
Ignoranz, Missbrauch, Mobbing, Eifersucht, Gier, Bosheit, Eigennutz: Grundsätzlich sind es die klassischen sieben Todsünden, die Lindqvist mit deprimierendem Einfallsreichtum modernisiert und abwandelt. Eltern, Lehrer, Polizisten, Politiker, Priester: Sie alle werden in einem Alltag, der wie ein Mahlwerk wirkt, so zerrieben und ausgelaugt, dass sie nicht merken, welches Unheil in ihrer Mitte entsteht, und unterschätzen welches Unheil sie quasi selbst heranzüchten.
Das klassische Wolfskind wurde angeblich im Säuglingsalter ausgesetzt oder ist auf andere Weise in die Wildnis geraten. Dort wird es von wilden Tieren - im europäischen Kulturkreis meist Wölfen - aufgezogen und nimmt deren Verhalten an. Später wird das Findelkind entdeckt und muss mühsam zum Menschsein erzogen werden, was niemals vollständig gelingt. Wissenschaftlich belegbare Fälle sind rar; sie regen die Fantasie des Menschen an, die ideenreich für ´Fakten´ sorgt; Romulus und Remus, die mythischen Gründer Roms, sollen von einer Wölfin aufgezogen worden sein, in der modernen Literatur taucht das "wilde Kind" als Mowgli oder Tarzan auf.
Auf beiden Seiten des Spiegels
Lindqvist konfrontiert uns mit modernen Wolfskindern. Sie wachsen unter Menschen auf und sind doch einsam. Die Gefahr entsteht aus der Negierung durch eine Gesellschaft, die sie ignoriert und ausschließt. Theres, Teresa und ihre Gefährtinnen finden daraufhin zu einer Parallel-Gesellschaft mit eigenen Regeln zusammen. Sie bilden ein "Rudel" und identifizieren sich dabei in fehlgeleiteter Faszination mit DEM Symbol der wilden, ungebändigten Kreatur: dem Wolf, der gleichzeitig bedingungslose Solidarität zu den Angehörigen seines Rudels beweist.
Teresa steht für die ´menschliche´ Seite dieser ´Auswilderung´. Lindqvist gelingt die bemerkenswert dichte Darstellung einer alltäglichen Hölle, die von außen als normales Schuldasein durchgeht. Tatsächlich wird Teresa auf erfinderisch boshafte und bösartige Weisen gepeinigt, gemobbt und schließlich in den Wahnsinn getrieben.
Theres repräsentiert das das übernatürliche Element dieser Geschichte. Lindqvist thematisiert ihre mysteriöse Herkunft nicht, aber Theres erinnert an die Hauptfigur der Erzählung "Grenze" (2006 erschienen in der Story-Sammlung "Im Verborgenen"), die erkennt, dass sie kein Mensch ist, sondern zu den höchstens menschenähnlichen "Anderen" gehört, die in einer Art Parallelwelt existieren.
Lindqvist postuliert zufällige Schnittpunkte zwischen der hiesigen und der anderen Welt. Schon in "So finster die Nacht" (2004) hatte er sie miteinander konfrontiert und dabei eine generelle Unverträglichkeit mit meist üblen Folgen festgestellt. In "Menschenhafen" (2008) hatte er das Konzept verfeinert, beschränkte sich aber weiterhin klug auf Andeutungen. Auch "Wolfskinder" bringt beileibe kein Licht in dieses Rätsel.
Das Zeigen der Instrumente
Eine besonderer Ironie liegt in der Tatsache, dass die Unmenschlichkeit von Theres zu einem Gutteil andressiert ist: Womöglich wäre selbst aus dem ´anderen´ Wechselbalg ein halbwegs angepasstes Menschenkind geworden, hätten sein selbsternannten Eltern es nicht systematisch von der Gesellschaft ferngehalten und in dem Glauben erzogen, alle anderen Menschen trachteten ihm nach dem Leben. Nicht Theres´ Gefühlskälte aber ihre mangelhafte Anpassungsfähigkeit ist hausgemacht, was ihrem Verhalten eine verhängnisvolle Konsequenz verleiht.
Die Gefahr liegt im Grunde ´nur´ in einem Hirn, das nach dem Prinzip der Wortwörtlichkeit arbeitet. In der modernen Gesellschaft, die zu einem guten (bzw. schlechten) Teil auf Übertreibung und Lüge aufbaut, muss dies Folgen haben. Der mit allen Wassern gewaschene Musikproduzent Max Hansen nimmt vor allem deshalb ein böses Ende, weil er sich außerstande ist zu begreifen, dass es Menschen wie Theres gibt, die sich durch Schmeicheleien, Unwahrheiten oder Drohungen nicht beeinflussen lassen, sondern entsprechende Versuche geradezu alttestamentarisch, d. h. direkt und blutig ahnden.
Wasser und Säure
Womöglich hätten Theres und Teresa einsame, unglückliche Leben geführt, wären sie nicht zusammengekommen. Damit kam zueinander, was keinesfalls zueinander hätte finden dürfen, weil es im Negativsinn zu perfekt passt: Durch Teresa findet Theres aus ihrer Isolation in die Welt hinaus, wo sie weitere ´Jüngerinnen´ finden und ´befreien´ kann. Durch Theres findet Teresa die Kraft, sie zu unterstützen und dabei eigene Fesseln abzuwerfen.
Dabei liegen sie nie wirklich auf einer Wellenlänge. Theres ist nicht ´böse´. Als sie ihr ´Rudel´ schult, will sie wirklich helfen. Allerdings hilft sie auf ihre Weise, was zur finalen Katastrophe führt. Teresa ist menschlich und deshalb bewusst böse. Ihre Frustration im realen Leben reagiert sie an noch Schwächeren u. a. als "Troll" in Internet-Foren ab und ist geht dabei ähnlich planvoll und tückisch vor wie ihre Schulfeindinnen. Das Böse - so Lindqvists Fazit - benötigt keine Unterstützung aus dem Jenseits. Der Mensch erschafft, nährt und verbreitet es selbst perfekt.
Ihre Sogwirkung erhält diese Geschichte daher nicht durch das Wüten übernatürlicher Kreaturen. Nicht einmal die zahlreichen Bluttaten sind wirklich wichtig. "Wolfskinder" fesselt - und deprimiert - als spannender Trip durch eine reale Hölle. Es gibt keine Rettung, nicht einmal Erlösung, es endet in sinnlosem Elend. Nicht einmal das von den amoklaufenden Mädchen befreite Zoo-Wolfsrudel mag sich ihnen anschließen. Die Freiheit, die Theres meint, funktioniert in der Menschenwelt nicht.
(Dr. Michael Drewniok, Februar 2012)
John Ajvide Lindqvist, Bastei-Lübbe
Deine Meinung zu »Wolfskinder«
Wir freuen uns auf Deine Meinungen. Ein fairer und respektvoller Umgang sollte selbstverständlich sein. Bitte Spoiler zum Inhalt vermeiden oder zumindest als solche deutlich in Deinem Kommentar kennzeichnen. Vielen Dank!