Der kurze Schlaf

  • Heyne
  • Erschienen: Januar 1998
  • 0
Der kurze Schlaf
Der kurze Schlaf
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Almut Oetjen
80°1001

Phantastik-Couch Rezension vonJun 2011

Killende Kängurus und saufende Babys

Privatinquisitor Conrad Metcalf lebt im Oakland der Zukunft. Er muss wie alle anderen Menschen ständig ein positives Karmakonto haben, sonst erfolgt die Lagerung in einer Tiefkühlkammer, Froster genannt. Karmapunkte kann man bereits verlieren durch unangemessene Ausdrucksweise, eine harte Anforderung an den Inquisitor. Der Urologe Maynard Stanhunt beauftragt ihn mit der Überwachung seiner Ehefrau Celeste. Kurz darauf wird Stanhunt in einem schmuddeligen Zimmer des Motel Bayview ermordet aufgefunden. Der Hauptverdächtige, Orton Angwine, beauftragt Metcalf damit, den Mörder zu finden.

Metcalf gerät durch seine Untersuchung in den Fokus des Inquisitors Morgenlander und des Gangsterbosses Danny Phoneblum, der seinen Killer Joey Castle auf ihn ansetzt. Castle ist ein exquisit gekleidetes und cooles Känguru. Metcalf soll seine Arbeit an dem Fall einstellen. Aber dann bekommt er noch einen zweiten Auftraggeber, der nach Klärung sucht: Celeste Stanhunt, die Angst vor dem Mörder ihres Mannes hat.

Hammett und Chandler und die Zukunft der Menschheit

"Der kurze Schlaf" erhielt 1994 den Locus Award für das beste Romandebüt. In Lethems Zukunftsentwurf gibt es kein Internet und keine Mobiltelefone, obwohl er aus den 1990ern ist, dafür aber jede Menge vom Staat bereitgestellte Drogen (wie Addiktol, Akzeptol, Avoidol, Forgettol) zur Erzeugung beziehungsweise Erhaltung wohl konditionierter Bürger.

Die Hauptfigur ist ein hardboiled Detective, der desillusionierte und zynische Archetyp aus dem angloamerikanischen Kriminalroman, namentlich von Dashiell Hammett und Raymond Chandler. Die Geschichte ist eher banal, die Figuren sind zumeist Stereotypen, deren Schicksal nicht wirklich interessiert. In einer Gesellschaft, in der die Menschen Drogen nehmen, die ihre Vergesslichkeit fördern (Forgettol), hat Metcalf es als Ermittler nicht leicht. Oft genug trifft er auf Menschen, die nicht reden wollen, oder die reden, jedoch nicht genau wissen, was sie sagen. Der Versuch, Antworten zu bekommen, ist deshalb ein fragwürdiges Unterfangen. Metcalf ist ebenfalls ständig auf Droge und deshalb ein unzuverlässiger Erzähler, wie die Hauptfigur in Agatha Christies "Der Mord an Roger Ackroyd" (auch: "Alibi").

In Lethems Zukunftswelt wird ein System der Bestrafung und Belohnung praktiziert, das mit Karmakarten arbeitet, deren Informationen auf Magnetstreifen gespeichert sind. Die totalitäre Polizei nennt sich Inquisitionsbüro. Die Menschen dürfen einander keine Fragen mehr stellen, Ausnahmen sind Polizisten oder lizenzierte Ermittler, Inquisitoren wie Metcalf.

Biowissenschaftlicher Fortschritt

Der technologische Fortschritt hat die biologische Evolution beeinflusst. Durch genetische Aufwertung sind Babys intelligenter als Erwachsene, aber auch recht zynisch. Sie werden "Babyköpfe" genannt, haben ihre eigene Subkultur, besuchen Kneipen und trinken Alkohol.

Ein biowissenschaftliches Verfahren, Dr. Twostrands Evolutionstherapie, ermöglicht, Tiere mit der Intelligenz und Sprachfähigkeit von Menschen auszustatten. Die Arbeiterklasse besteht aus höher entwickelten sprechenden Tieren. Menschen dürfen "evolvierte" Tiere adoptieren und auch sexuelle Beziehungen zu ihnen unterhalten.

Paare können erogene Zonen vorübergehend austauschen, um neue sexuelle Erfahrungen zu machen. Metcalf ist Leidtragender eines derartigen sexuellen Experiments. Er ist mit weiblichen Nervenenden ausgestattet, seit seine Freundin Delia Limetree nach einem solchen Tausch mit unbekanntem Ziel die Stadt verlassen hat.

Kriminelle haben so genannte "Sklavenkapseln" entwickelt, Neuroimplantate, die Menschen veranlassen, sich zu prostituieren oder Arbeiten zu übernehmen, ohne dass ihnen dies bewusst wird.

Interpretierende Musik

Die Medien bringen keine Textnachrichten mehr, sondern nur noch Bilder, unterlegt mit interpretierender dramatischer Musik. Eine reduzierte Kulturtechnologie. Handfeuerwaffen machen bei Nutzung Geräusche, die eher an einen Soundtrack als an die bekannten Töne erinnern. Diesem Sachverhalt verdankt der Roman seinen Originaltitel ("Gun, with Occasional Music") und den Titel der ersten deutschen Übersetzung ("Knarre mit Begleitmusik"). Der neue deutsche Titel erzeugt eine direkte Verbindung zu Raymond Chandlers "Der große Schlaf".

Lethem verschwendet keine Seite für Erklärungen, die uns seinen Zukunftsentwurf etwas näher brächten. Er zieht uns einfach in seine Welt und überlässt es uns, herauszufinden, warum sie so aussieht, wie er sie beschreibt. Das funktioniert natürlich mangels Erklärungen nicht wirklich. Aber es macht im Kleinen Spaß zu lesen, wie sich ein zu Beginn naives, strebsames Känguru im Milieu des Verbrechens verhält und entwickelt, oder wie Metcalf das Schaf Dulcie, das mit Stanhunts Kollegen Testafer zusammenlebt, verhört.

Der Roman besteht aus zwei Teilen. Der erste Teil ist bisweilen urkomisch, enthält brillante Ideen, bizarre Settings und absurde Figuren. Im zweiten Teil, bestehend aus rund zwanzig Prozent des Textes, setzt die Handlung nach einem harten Bruch sechs Jahre später wieder ein. Wer die dystopische Welt im ersten Teil für einen Alptraum hält, erlebt im zweiten Teil, was ein solcher tatsächlich ist.

(Almut Oetjen, Dezember 2011)

Der kurze Schlaf

Jonathan Lethem, Heyne

Der kurze Schlaf

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