Das Haus der Angst

  • Suhrkamp
  • Erschienen: Januar 2008
  • 0
Das Haus der Angst
Das Haus der Angst
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Almut Oetjen
88°1001

Phantastik-Couch Rezension vonJun 2011

Seltsame Begegnungen

"Das Haus der Angst" enthält acht Geschichten im Umfang von drei bis 105 Seiten, geschrieben in den Jahren 1938 bis 1986. Ursprünglich sind sie in vier Einzelpublikationen erschienen:

  • Das Haus der Angst, mit einem Vorwort von Max Ernst
  • Die ovale Dame (Die ovale Dame/ Die Debütantin/Die königliche Order/Der Verliebte/Onkel Sam Carrington)
  • Der kleine Francis
  • Unten (mit Postskriptum 1987)

In einem zusammenfassenden Band hat Leonora Carrington die Texte 1988 unter dem Titel "The House of Fear - Notes from Down Below" veröffentlicht. Vier weitere Texte ergänzen den Band von Suhrkamp: Zu dieser Ausgabe/Vita Leonora Carrington/Interview mit Leonora Carrington/Nachwort von Christiane Meyer-Thoss.

Dumme Politiker, sprechende Tiere und die Magie des Alltags

In den Geschichten Carringtons verschmelzen die reale Alltagswahrnehmung und die Imagination in einer surrealen Perspektive. In den ersten Texten, sechs Miniaturen von drei bis sechs Seiten Umfang, protokolliert die Erzählerin lakonisch das Übernatürliche und bettet es so als normal in den Alltag ein.

Die Erzählerin wird um die Mittagszeit von einem Pferd angesprochen und für den Abend zu einem Fest in das Schloss der Angst eingeladen (Das Haus der Angst).

Im Fenster einer Aristokratenwohnung sieht die Erzählerin eine blasse und traurige schlanke Dame, die sie besucht. Im Raum selbst scheint die Dame mit Namen Lukrezia von hinten bald drei Meter groß zu sein, von vorn sieht sie aus wie ein sechzehnjähriges Mädchen. Wenig später verwandelt sich Lukrezia beim Spielen in ein Pferd (Die ovale Dame).

Die Erzählerin lernt im Zoo eine Hyäne kennen. Sie bringt ihr Französisch bei und lernt die Hyänensprache. Ihre Mutter gibt einen Ball, die Erzählerin hasst derartige Anlässe, die Hyäne soll sich als Erzählerin verkleiden und an deren Stelle auf den Ball gehen. Ein Problem bereitet das Gesicht der Hyäne, aber da gibt es ja noch das Dienstmädchen (Die Debütantin).

Die Dummköpfe in der Regierung ermüden die Königin, deren Regierungsgeschäften die Erzählerin nachgehen soll. Die Minister bezeichnen die Königin als wahnsinnig und wollen sie ermorden. Der Attentäter soll durch ein Damespiel bestimmt werden. Eine Zypresse erklärt die Erzählerin zur Siegerin, weil sie die Einzige ist, die nicht geschummelt hat (Die königliche Order).

Die Erzählerin stiehlt einem Obsthändler eine Melone. Der Mann will sie nicht anzeigen, wenn sie seine Geschichte anhört. Bei ihm im Bett liegt seit vierzig Jahren eine Frau, die der Obsthändler täglich gießt; er weiß aber nicht, ob sie lebt oder tot ist (Der Verliebte).

Onkel Sam und Tante Edgeworth bereiten der Mutter der Erzählerin Kummer. Die Erzählerin will etwas dagegen tun. Ein Pferd bringt sie zu zwei älteren Damen, die auf die Tilgung von Familienschande spezialisiert sind. Die Damen peitschen im Garten Gemüsepflanzen und schreien, man müsse leiden, um in den Himmel zu kommen. Sie geben der Erzählerin ein Heilmittel mit (Onkel Sam Carrington).

Auf die sechs Miniaturen folgt "Der kleine Francis", Carringtons erster Roman. Die Autorin verarbeitet in dieser mythischen Geschichte ihre Zeit in Frankreich. Ubriaco und sein Neffe Francis sind bemüht, ihre Liebe vor Ubriacos rachsüchtiger Tochter Amelia zu retten. Sie fliehen durch Frankreich und begegnen fabelhaften Wesen, Steine erheben sich vom Boden und sprechen mit toten Igeln und einer Elster, Francis reißt ein Büschel Miraldalocks aus dem Boden. Miraldalocks kann sprechen und begleitet sie fortan. Auf einem Fest kämpfen ein Kaninchen und ein Hahn, bis das schwer verletzte Kaninchen seinen eigenen Tod herbeischreit, Heuschrecken und eine Vampir-Fledermaus liefern sich einen Luftkampf, am Ende trinkt die siegreiche Fledermaus Blut an Miraldalocks Unterarm.

Carrington gestaltet in "Der kleine Francis" literarisch, was mit einem psychoanalytischen Begriff als Landschaften der Seele bezeichnet wird. Gegen Ende hat Francis einen Pferdekopf, der infolge seines gebrochenen Herzens entsteht.

"Unten" erzählt von Carringtons Aufenthalt in einer psychiatrischen Anstalt im nordspanischen Santander während mehrerer Monate des Jahres 1940. Vom 23. bis 26. August 1943 hat sie die Erinnerungen daran aufgeschrieben und 1987 um ein Postskriptum ergänzt.

Kleinode des Surrealismus

Die phantastischen Texte Carringtons sind durch die Symbolsprache des Surrealismus geprägt. Wie viele Surrealisten, kannte sich Carrington in der Psychoanalyse und der Esoterik aus. Symboltiere aus dem Schamanismus, wie der Vogel, waren ihr geläufig. Ein wichtiges Totem in Carringtons künstlerischem Werk, also auch ihren Erzähltexten, ist das Pferd. Wenn in ihren Geschichten Menschen Pferdeköpfe wachsen, kann dies Teilpersönlichkeiten symbolisieren, die für unbewusste Gedanken und Triebe stehen. Eine Verbindung der Tiersymbolik mit dem Doppelgängermotiv findet sich in der Geschichte von der Debütantin und der Hyäne. Allerdings lässt sich die Bedeutung der Symbole im Werk Carringtons nicht immer, vielleicht eher selten, klar erschließen. Die Erzählungen Carringtons enthalten viele biographische Details. Das Schaukelpferd Tartar, das im Zimmer der ovalen Dame steht, ist ein Spielzeug aus Carringtons Kindheit.

"Das Haus der Angst" ist sicher keine leicht zugängliche Lektüre. Zugang zu den Tiefenschichten der Texte erhält man, zumindest teilweise, wenn man sich mit Surrealismus, Carringtons Biographie und ihren Bildern beschäftigt. Das Buch lässt sich aber auch als reine phantastische Literatur mit Gewinn lesen, wobei die Welt der Halbwesen Carringtons Anschlüsse an die Genreliteratur erlaubt. Die Geschichten faszinieren durch ihre surreale Bildgewalt.

 

Das Haus der Angst

Leonora Carrington, Suhrkamp

Das Haus der Angst

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