Nach dem Ende

  • Heyne
  • Erschienen: Januar 2011
  • 3
Nach dem Ende
Nach dem Ende
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Michael Drewniok
70°1001

Phantastik-Couch Rezension vonJul 2011

Odyssee durch ein - trotz Zombies - schönes Land

Temple ist etwa 16 Jahre alt; genau weiß sie es nicht, denn ein Familienleben hat sie nie kennengelernt. Vor einem Vierteljahrhundert kamen die Toten aus ihren Gräbern zurück. Das anschwellende Heer nie schlafender, stets hungriger Zombies hat weltweit die Zivilisation zusammenbrechen lassen.

Auch die USA gibt es nicht mehr. Festungsgleich gesicherte Lager sind über den nordamerikanischen Kontinent verstreut und bieten den wachsamen Lebenden einen nie wirklich sicheren Unterschlupf. Die Hoffnung auf eine Rückkehr zur Normalität schwindet, denn die Zombies haben gelernt, nicht nur Menschen, sondern auch Tiere zu jagen. Selbst untote Kannibalen gibt es inzwischen, sodass ein Aushungern der lebenden Leichen unmöglich ist.

Durch diese postapokalyptische Welt zieht Temple. Sie kennt keine Welt ohne Zombies und weiß sich auch gegen marodierende Plünderer zur Wehr zu setzen. Temples aktuelles Problem heißt Moses Todd, dessen Bruder Abraham sie töten musste, als der sie vergewaltigen wollte. Moses will Rache und jagt Temple, die inzwischen nicht mehr allein reist: Unterwegs hat sie den geistig zurückgebliebenen Maury aufgelesen, den sie zu seinen Verwandten nach Texas bringen will.

Die Fahrt wird zur Odyssee. Temple lernt Menschen und Mutanten kennen, die sich auf unterschiedliche Weise mit der Belagerung durch die Untoten arrangiert haben. Trotz der Zombies rührt sich Leben in den Ruinen. Temple fühlt sich trotzdem nirgendwo heimisch, denn sie kann und will sich nicht unterordnen. Also zieht sie weiter durch eine Nation, die den Untoten gehört und von der Natur zurückerobert wird. Ihrer Fährte folgt unerbittlich Moses Todd. Mehrfach kreuzen sich ihre Wege, bis sie sich eines Tages im letzten Duell gegenüberstehen ...

Alles zurück auf Start

Die Zombies sind gekommen und haben die USA, wie man sie kannte, vernichtet. Womöglich muss man ihnen dankbar sein, haben sie doch Schluss gemacht mit einer Nation, die ihren Traum und ihr Selbstverständnis als "God's Own Country" längst verloren hatte.

So sieht es jedenfalls Alden Bell alias Joshua Gaylord, dem deshalb der Einfall kam, die Zombies loszulassen, um die USA zurück dorthin zu führen, wo ihr Aufstieg begann. Nun herrscht Tabula rasa, es ist wieder möglich, eine neue Welt zu errichten! "Go West, Young Man!", hieß es einst, aber jetzt sind die Voraussetzungen noch besser: Wackere US-Amerikaner mit Pionierblut in den Adern können praktisch in jede Richtung gehen und den Neubeginn versuchen.

Obwohl die Untoten weiterhin in dreistelliger Millionenzahl durch die Landschaft schlurfen, haben sich in der Tat bereits die Keimzellen eines neuen Amerika gebildet. Die Lethargie einer überzivilisierten Volksgemeinschaft wurde abgeschüttelt, wobei natürlich hilfreich war, dass die Zombies die meisten Bürger der ´alten´ USA abschlachteten - ein zu verschmerzender Verlust, was Bell lieber nicht ausspricht, denn es überlebten die Harten & Starken, die in die Hände spuckten und nicht einen Kampf fortsetzten, der nicht zu gewinnen ist, sondern den Wiederaufbau in Angriff nehmen.

Die Zombies sind halt da

Nach einem Vierteljahrhundert des Schreckens beginnt sich das Gleichgewicht der Welt einzupendeln. Die frenetischen Versuche der US-Regierung, die Zombies mit militärischen Mitteln zu vernichten, sind fehlgeschlagen. Die Überlebenden dieser und die Angehörigen einer neuen Generation haben eine funktionierende Alternative gefunden: Sie verbarrikadieren sich in Dörfern und Stadtteilen, richten sich ein und drängen die Untoten dann allmählich zurück, wobei sie die ´sicheren´ Regionen ausweiten. Irgendwann werden die dabei entstehenden Refugien zusammenwachsen, und noch später werden die Menschen zu einer neuen Nation zusammenfinden, die hoffentlich die Lehren aus der Apokalypse nicht vergessen und eine neuerliche Degeneration vermeiden wird.

Die Zombies sind in diesem Tableau mehr ein Ärger- als ein Hindernis: Zwar haben sie den Untergang gebracht, aber inzwischen weiß man mit ihnen umzugehen und sie sich vom Leib zu halten. Temple bewegt sich aufmerksam aber nicht ängstlich zwischen ihnen und bereist den Südwesten der USA, ohne sich beißen zu lassen.

Diese Wertung von "Nach dem Ende" als im Kern recht konservative Lektüre mag den Leser verblüffen. Doch der Rezensent folgt darin dem Verfasser, der in einem Interview ausführlich seine Gedanken zu dieser Geschichte dargelegt hat. Bell nutzt demnach das Horror-Genre, um eine Leserschicht zu finden, die ´richtiger´ Literatur oft skeptisch gegenübersteht. Entstanden ist ein Roman, der zwischen trivialer aber spannender Unterhaltung und Mainstream hin und her schwankt.

Die Kunst im Horror-Mantel

´Hohe´ Literatur arbeitet gern mit Symbolen. "Nach dem Ende" ist förmlich überladen mit Szenen, die nicht direkt, sondern durch die Entschlüsselung ihres Hintersinns wirken sollen. Dies beginnt schon mit dem sicherlich bedeutungsschwangeren Originaltitel: "Die Schnitter sind die Engel". Bei nüchterner Betrachtung erzeugen diese Kunstgriffe freilich eher Stirnrunzeln oder Heiterkeit. Schwer lässt Bell Namen wie William Faulkner oder Corman McCarthy fallen, die ihn inspiriert haben, Realismus und Mystizismus zu verquicken, um daraus eine künstlerische Wirklichkeit zu formen.

Deshalb jagen sich Temple und Moses Todd, obwohl sie realiter die einzigen Menschen sind, die einander verstehen. Zwischenzeitlich wirft sie das Schicksal in Situationen, in denen sie sich nicht an die Gurgeln gehen, sondern nur reden können. Dies führt stets zu schwermütigen Disputen über Regeln und Ehre, die vor allem wegen der einfachen aber schönen Worte geführt zu scheinen werden. Ein tiefer Sinn verbirgt sich jedenfalls nicht hinter ihnen.

Dazu passt eine betont einfache, lakonische Sprache, die sich nach dem Willen des Verfassers zudem jenen Regeln entzieht, denen sich Schriftsteller im Druck in der Regel unterwerfen müssen. Wie der verehrte McCarthy setzt auch Bell keine Anführungsstriche. Wörtliche Rede geht im normalen Textfluss unter. Der Sinn bleibt unklar; soll der auf diese Weise ´entschlackte´ Text die vom Ballast der Vergangenheit befreite Gegenwart verdeutlichen? Eine Intensivierung des Geschehens will sich allerdings beim Leser dadurch nicht einstellen. Ob es daran liegt, dass Bell kein McCarthy oder gar Faulkner ist?

Auch metaphorische Zombies beißen

Am besten funktioniert "Nach dem Ende" als simple Horror-Story. Bell hat die trivialliterarischen und filmischen Vorbilder durchaus verstanden. Stephen King und Peter Straub erweist er seinen Respekt. Die Schilderungen einer in der Katastrophe untergegangenen Hochkultur sind eindrucksvoll. Schutt und Fäulnis, aber auch die Schönheit einer sich regenerierenden Natur stellt Bell - in der deutschen Romanfassung gut unterstützt durch seinen Übersetzer - erschreckend und faszinierend dar.

Temple ist eine gelungene Figur - das Pendant zum unsteten Cowboy des Wilden Westens, für den immer hinter dem Horizont das Gras ein wenig grüner war als unter seinen Füßen. Sie will und kann sich nicht in die neu entstehenden Gemeinschaften - die ihrerseits stark den Forts und Kleinstädten des 19. Jahrhunderts ähneln - einfügen, sondern reist durch die von Bell präsentierte Gegenwart, die ihr Respekt einflößt aber keine Angst einjagt. Sie hat sich arrangiert und weiß sich ihrer Haut zu wehren. Folgerichtig werden nicht die Untoten ihr Verhängnis, sondern ihr Drang zu suchen und ihre Unfähigkeit zu finden.

Die Zombies sind Bell vor allem Mittel zum Zweck. Sie taugen dafür, denn auch Bells Untote sind geistlose, instinktgesteuerte Menschenfresser. Eine innere Tragik besitzen sie nicht, weshalb sie primär hässlich und latent gefährlich sind. Bell inszeniert sie als traurige Wiedergänger einer versunkenen Ära, deren Handlungen und Gesten sie noch immer sinnlos imitieren.

Der Horror setzt sich durch

Mehrfach greift Bell auf Klischees zurück, denen er nicht wie vorgesehen neues oder echtes Leben einflößen kann. Die in den erstarrten und sinnlosen Ritualen einer vornehmen Vor-Zombie-Ära gefangene Südstaaten-Familie Grierson, die den zum Untoten gewordenen Vater im Keller hält und dies als "Krankheit" tarnt, ist in so vielen Gruselgeschichten und Filmen zum Einsatz gekommen, dass diese Szenerie längst jeden ihr innewohnenden Schrecken verloren hat.

Gänzlich aus dem literarischen Rahmen fällt die Hillbilly-Sippe, die Zombie-Hirne auspresst, um sich den Sud in die Venen zu spritzen. Die so ´Behandelten´ mutieren zu Mischwesen, die sogar noch scheußlicher als die ´normalen´ Untoten sind, aber ihren Verstand behalten haben, den sie freilich nur einsetzen, um ein "sauberes" Amerika zu gründen. Auch diese Szenen sind reiner Horror - plakativ und sogar komisch. Womöglich sollen sie es sein, um die steinzeitfundamentalistischen Gruppen der US-Gegenwart ins Lächerliche zu ziehen.

Das Finale ist dramatisch und selbstverständlich traurig. Ihm folgt noch eine letzte metaphysische Reise an die Niagara-Fälle, die einmal mehr nur den Literaten erschüttert, während der hartgesottene Horrorfreund - keineswegs grundlos - nach dem Warum fragt. Doch trotz dieser Einschränkungen liest sich "Nach dem Ende" unterhaltsam, zumal Bell seine Geschichte nicht in die Länge zieht, die auf jeden Fall spannend ist und hoch über Dummfug à la "Stolz und Vorurteil und Zombies" schwebt.

Nach dem Ende

Alden Bell, Heyne

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