Weit im Norden

  • Heyne
  • Erschienen: Januar 2011
  • 1
Weit im Norden
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Michael Drewniok
85°1001

Phantastik-Couch Rezension vonAug 2011

Zivilisations-Neustart mit Verzögerung

Irgendwann im 21. Jahrhundert haben Umweltzerstörung, Erderwärmung und Bevölkerungsexplosion die Zivilisation global kollabieren lassen; ein III. Weltkrieg gab der Menschheit den Rest. Milliarden sind verhungert, die Überlebenden führen eine kärgliche Existenz als Jäger, Farmer und Sammler. Um die wenigen Ressourcen wird weiterhin gekämpft. Jegliche staatliche Ordnung hat sich aufgelöst, es gilt das Recht des Stärkeren. Sklaverei ist an der Tagesordnung; oft verkaufen sich die Menschen selbst, um dem Hungertod zu entrinnen.

Im Norden Sibiriens entstanden einige Jahre vor der Katastrophe fünf neue Städte. Vor allem fromme Quäker aus den USA siedelten sich hier mit Billigung der russischen Regierung an. Das Klima hatte sich aufgeheizt, sodass ein Leben am Polarkreis möglich wurde. Doch der Krieg erreichte auch Sibirien. Die Siedler zogen fort oder wurden von Flüchtlingswellen überrollt.

Not und Gewalt haben auch die Stadt Evangeline veröden lassen. Nur noch Makepeace Hatfield, die letzte Überlebende ihrer Familie, hält aus. Als sie eines Tages ein Flugzeug abstürzen sieht, wird sie aus ihrer Lethargie gerissen: Gibt es irgendwo wieder eine Zivilisation im Aufbau? Makepeace macht sich auf den Weg nach Westen. Doch weit kommt sie nicht. Im Festungsdorf Horeb gerät sie unter Frömmler, die sie ausrauben und als Sklavin verkaufen.

Ein Arbeitslager hoch im Norden wird ihre neue ´Heimat´. Makepeace schlägt sich durch und wird schließlich befördert: Als Wächterin soll sie eine Sklavengruppe begleiten, die in den Ruinen der Industriestadt Polyn nach Wertvollem suchen soll. Zu spät erkennt Makepeace, dass sie an einer Himmelfahrtsmission teilnimmt: Polyn ist verstrahlt und vergiftet. Wer einmal in die Tiefen der Stadt vorgedrungen ist, wird sie niemals lebend verlassen ...

Ganz leise geht der Mensch dahin

Normalerweise geht die Welt - vor allem im Film - spektakulär vor die Hunde. Außerirdische greifen an, Zombies steigen aus den Gräbern, der III. Weltkrieg bricht aus. (Wahrscheinlich gibt es sogar Geschichten, die diese drei Effekte gleichzeitig bemühen.) Anschließend wird es nicht besser; in der Darstellung der "Post-Doomsday"-Ära haben Mad Max & Co. nachhaltig Maßstäbe gesetzt; auch "Weit im Norden" finden wir ihre Spuren.

Von den vielen Apokalypsen seiner Vorgänger übernahm Marcel Theroux bestimmte Handlungselemente sowie einen Grundtenor unendlicher Melancholie. Der Untergang der Menschheit ist gewiss kein erheiterndes Ereignis, doch selten gelang es, die damit einhergehende Stimmung so intensiv heraufzubeschwören. "Das Ende der Zivilisation ... ist der Beginn eines großen Abenteuers" lesen wir auf dem hinteren Umschlag die Worte eines Klappentext-Dichters, der das dazugehörende Buch offensichtlich nicht gelesen hat.

Denn zumindest für Makepeace Hatfield bedeutet das Ende ihrer Welt das allmähliche Verlöschen der eigenen Existenz. Die "Post-Doomsday"-Literatur wimmelt von kernigen Pioniergestalten, die in die Hände spucken und die Trümmer beiseiteschieben, um aus den Ruinen eine neue und hoffentlich bessere Welt zu errichten. Auf den ersten Blick ist Makepeace eine von ihnen. Sie ist kein Opfer und gehört nicht zu den 99,9% der Erdbevölkerung, die gestorben sind, weil sie sich in ihr Schicksal ergeben haben. Makepeace wehrt sich notfalls mit der Waffe in der Hand. Mitleid kann sie sich nicht leisten, denn eine deprimierende Lehre, die sie - in Vertretung des Verfassers - aus den Erfahrungen ihres Lebens ziehen musste, war die Erkenntnis, dass Mitgefühl gefährlich ist. Nicht einmal Cormac McCarthy geht in "The Road" (dt. "Die Straße") in der Darstellung einer Welt ohne Menschlichkeit so weit wie Theroux.

Es ist zu spät - in jeder Hinsicht

In verschiedenen Rückblenden erinnert sich Makepeace an die Jahre des Umbruchs und Untergangs. Die Menschheit hatte sich durch fortgesetzte Umweltausbeutung und -zerstörung buchstäblich den Ast abgesägt, auf dem sie selbst saß, und eine ökologische Kettenreaktion in Gang gesetzt. Von der Verödung fruchtbarer Landstriche und weltweiten Missernten, die erstmals auch die Industrieländer im Speckgürtel dieser Erde nicht verschonten, erfahren wir nur von Makepeace, die sich auf Grundsätzliches beschränkt und dadurch erst recht ahnen lässt, welche globalen Tragödien sich abgespielt haben.

Den eigentlichen Schlussstrich zog der Mensch, indem er jegliche Solidarität aufgab, sondern jene angriff, die besser dastanden oder sogar helfen wollten: Bittsteller wurden zu Neidern, Besitzende mussten um das kämpfen, das sie nicht hergeben konnten und wollten. Nicht einmal der III. Weltkrieg fand mit der befürchteten atomaren Wucht statt: Die Gegner waren schon vor dem Ausbruch offener Feindseligkeiten erschöpft.

Nachdem die meisten Menschen tot sind, könnte endlich Ruhe einkehren. Doch nicht die vollständige Ausschöpfung der irdischen Ressourcen brachte der Zivilisation den Untergang. Theroux macht deutlich, dass auch die überbevölkerte Erde ihre Bewohner noch ernähren konnte, während sich die menschenleere Erde zu erholen beginnt. Der Mensch allein verursachte seinen Untergang.

Barbarei und Abfallverwertung

"Weit im Norden" spielt weit abseits aller politischen, wirtschaftlichen oder kulturellen Zentren. Schon vor der Katastrophe war Sibirien ein hartes Land, das entweder von denen besiedelt wurden, die mehr oder weniger zwangsweise dorthin geschickt wurden, oder genügsamen, den rauen Verhältnissen angepassten Ureinwohnern eine Heimat bot, die den fremden Siedlern skeptisch bis feindlich gegenüberstanden. Theroux hat kleine Zellen der US-Kultur nach Sibirien verpflanzt, die wie in einer Petrischale im Kleinen nachbildet, was sich in Nordamerika ereignet hat.

Die Geschichte wird auf diese Weise schlank gehalten bzw. auf ihre wichtigsten Elemente reduziert. Der Mensch beginnt nicht sofort mit der Anpassung an die neuen Bedingungen. Makepeace Hatfield symbolisiert ebenso wie die Jäger, Sklavenhändler, Schrottsammler etc. einen Menschentyp, dem die Adaption nicht gelingt, weil er zu sehr der Vergangenheit verhaftet ist. Immer wieder stößt Makepeace auf Menschen, die ihre Kraft in die Bewahrung oder Neubelebung vergangener Lebensverhältnisse investieren. Sie muss schließlich lernen, dass sie trotz ihrer Unabhängigkeit auch zu ihnen gehört. Erst die nächsten Generationen, die sich an die alte Zivilisation nicht mehr erinnern können, werden sie nicht mehr vermissen und - vielleicht - einen echten Neustart schaffen.

Bis es soweit ist, bleibt der Blick nach rückwärts gerichtet, fällt der Mensch in nie bewährte aber allzu tradierte Verhaltensformen zurück. Feudale Strukturen werden in eine Sklavenhaltergesellschaft eingekreuzt, deren ´Stabilität´ auf Furcht und Gewalt basiert. Technische Errungenschaften entstammen einer Vergangenheit, die schon jetzt kaum mehr verstanden wird. Abgerundet wird diese gar nicht schöne, neue Welt durch religiösen Fanatismus, der für realpolitische Zwecken missbraucht wird (und Theroux zum einzigen echten Klischee gerinnt).

Keinen Schritt vor, zwei Schritte zurück

Mit Makepeace Hatfield schuf Theroux die ideale Hauptfigur für seine traurige Zukunftsmär. Schon ihr Vorname demonstriert die Verbindung zu einer Vergangenheit, die mit ihren Idealen gestorben ist. Makepeace hat auf die harte Tour lernen müssen, wie die Gegenwart funktioniert. Im Gegensatz zu ihrer Familie war sie willens und fähig, die notwendigen Konsequenzen zu ziehen. Dies hat sie allerdings tief traumatisiert und vereinsamen lassen.

Unter Schutzpanzer steckt ein vielschichtiger Charakter, der nur allmählich zum Vorschein kommt. Ein großer Moment gelingt Theroux, wenn er Makepeace schließlich Bilanz ziehen lässt. Sie muss sich eingestehen, dass sie nicht lebt, sondern nur überlebt hat. Ihre Entdeckungsreise in einen von der Apokalypse verschonten Teil der Welt führt sie nur im Kreis. Nach entbehrungsreichen Jahren landet sie wieder dort, wo sie ihre Reise begonnen hat. Für Makepeace Hatfield gibt es kein Entrinnen. Sie ergibt sich schließlich in ihr Schicksal. Ihrer Tochter Ping bleibt es überlassen, eine echte neue Welt zu finden.

Anmerkung

Zum Thema "Ressourcenvergeudung" leistet der Heyne Verlag mit der Erstausgabe von "Weit im Norden" seinen eigenen Beitrag: Was hier mit aller Gewalt zum ´mehrwertigen´ Paperback aufgeblasen wird, fällt eigentlich in die Kategorie "Großdruck für Sehbehinderte". Kümmerliche 27 Zeilen ´füllen´ jede Seite, und "Großbuchstaben" tragen ihren Namen zu Recht, weil sie sich stolze 4 mm in die Höhe recken. Der Rezensent freut sich immerhin über breite Ränder, auf denen er sich schon während der Lektüre fleißig Notizen machen kann. Doch ist dies (Achtung: rhetorische Frage!) den stolzen Mehrpreis wert? "Weit im Norden" ist ein gutes Buch mit einem unerwarteten Subtext: Beutelschneider gibt es nicht nur in Makepeace Hatfields zukünftigen Sibirien ...

(Dr. Michael Drewniok, September 2011)

Weit im Norden

Marcel Theroux, Heyne

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