Das Hotel

  • Heyne
  • Erschienen: Januar 2011
  • 6
Das Hotel
Das Hotel
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Michael Drewniok
75°1001

Phantastik-Couch Rezension vonDez 2011

Einchecken & spurlos aus der Welt verschwinden

Sehr weit außerhalb bzw. tief in den Hügeln des US-Staates Virginia steht das Hotel Rushmore Inn. Es ist ein Familienbetrieb der ganz besonderen Art, deren Betreiber sich möglichst selten im hellen Tageslicht blicken lassen, denn der Stammbaum der Roosevelts weist allzu viele verdächtig miteinander verflochtene Seitentriebe auf. Ein illegales Lager uralter Medikamente im Keller des Hotels sorgt für die zusätzliche Trübung des familiären Gen-Pools. Die Konsequenzen sind den meisten Mitgliedern der Sippe buchstäblich in die zerfressenen Gesichter geschrieben. Innerhalb der Roosevelt-Schädel herrscht kollektive Leere dort, wo Begriffe wie "Gesetz" und "Moral" verankert sein sollten.

Auch degeneriertes Hinterwäldler-Gesindel will leben. Wer sich im Rushmore Inn eincheckt, wird es lebend nicht mehr verlassen, denn der Roosevelt-Clan benötigt regelmäßige Blutauffrischungen. Weibliche ´Gäste´ sperrt man zur Erzeugung halbwegs menschenähnlichen Nachwuchses im Keller ein. Aktuell vergreift man sich an den Pillburys: Großmutter Florence, Tochter Letti und Enkelin Kelly. Außerdem angelockt wurden Deborah Novacheck, die nach einer doppelten Beinamputation auf Prothesen angewiesen, deshalb in Sachen Flucht gehandicapt aber durchaus gebärfähig ist, und der Journalist Mal Deiter.

Noch wie üblich schnappt die Falle zu. Dann allerdings bekommen die Roosevelts Schwierigkeiten. Die Pillburys sind sämtlich überaus sportlich - Oma war zudem in Vietnam -, und Deborah wollte gerade an einem weiteren "Ironwoman"-Triathlon teilnehmen. Außerdem nähern sich die Leidensgefährten Felix und Cameron dem Hotel: Hier verschwand im Vorjahr Maria, Freundin bzw. Schwester der beiden Männer, die dort weitersuchen, wo die Polizei kapituliert hat.

In den tiefen Kellergewölben des Rushmore Inn bricht ein Kampf auf Leben & Tod aus, der sich bald auf sämtliche Räume des alten Hauses ausweitet. Hier wird Pardon weder erwartet noch gegeben, was auf beiden Seiten den Leichenpegel steigen lässt ...

Bestie Mensch als Spiegelbild

Das Verhältnis der US-Amerikaner zu ihren ´Hinterwäldlern´ ist ebenso zwiespältig wie interessant. Gemeint sind jene Bevölkerungsschichten, die nicht nur vom etablierten, konsumorientierten "American Way of Life" abgekoppelt sind, sondern ihren Außenseiterstatus scheinbar zelebrieren, indem sie sich als Gruppen isolieren und unter sich bleiben. Die Geografie eines Kontinents, der mehr als genug Winkel bietet, liefert ihnen die nötige Abgeschiedenheit.

Nun kommen seitens der ´normalen´ US-Bürger Unwissen, Vorurteile und Schadenfreude dazu, und fertig ist der "Redneck": schmutzig, dumm, brutal, un- und inzüchtig, chronisch kriminell, versoffen, mehr Tier als Mensch. Als "Backwood"- Bösewicht hat er sich vor allem im Unterhaltungsfilm einen festen Platz neben den klassischen Horror-Gestalten erobert. John Boorman formulierte 1972 in "Deliverance" (dt. "Beim Sterben ist jeder der Erste"/"Flußfahrt") die noch heute gültige Definition. Tobe Hooper erweiterte sie 1974 mit "The Texas Chain Saw Massacre" (dt. "Blutgericht in Texas"/"Kettensägenmassaker") um die Horror-Elemente Wahnsinn, Blutgier und Kannibalismus.

Die Faszination am kaputten Redneck ist zu einem Gutteil Voyeurismus: Die ´guten´ Amerikaner blicken aus sicherer Entfernung und deshalb angeekelt aber auch besorgt auf ihr Spiegelbild (herunter). verkörpert es doch, was der brave US-Bürger zu werden befürchtet, wenn er beim Ringen um den "Amerikanischen Traum" nicht mithalten kann. Auf der anderen Seite ist da auch Neid: Hinterwäldler verstellen sich nicht. Konflikte werden unmittelbar ausgetragen, Bedürfnisse befriedigt. In gewisser Weise sind sie frei; Gesetze, Regeln oder Zwänge gelten für Rednecks nicht. Sie leben aus, was sonst streng kontrolliert wird.

Vorbereitungen auf den Kampf

Mit "Afraid" (2008; dt. "Angst"), seinem ersten in Deutschland veröffentlichten Horror-Roman, ging Kilborn ab der ersten Seite in die Vollen - und hatte sein Pulver lange (sehr lange) vor dem Finale verschossen. "Das Hotel" entstand zwei Jahre später und zeigt einen Verfasser, der als Erzähler dazugelernt hat. Einem turbulenten und verheißungsvollen Auftakt folgt eine ruhige Passage, in die Kilborn zwar immer wieder kurze Szenen einschneidet, die uns daran erinnern sollen, dass wir hier eine Gruselgeschichte lesen, aber ansonsten seine Figuren einführt und vorstellt.

Diese unterscheiden angenehm vom üblichen Backwood-Horror-Kanonenfutter, das entweder heulend dem blutigen Ende entgegen bibbert oder - noch klischeehafter - zum Kampf-Koloss mutiert und die Schurken reihenweise niederstreckt. Zwar scheint genau das auch in "Das Hotel" zu geschehen. Der Unterschied ist klein aber gravierend: Kilborn macht sich die Mühe, glaubhaft zu erklären, wieso das Backwood-Pack einerseits übermenschlich stark aber andererseits verletzlich ist, während die Opfer entweder Leistungssportlerinnen oder aus anderen Gründen körperlich gut beieinander sind. Auf diese Weise ist das Kräfteverhältnis einigermaßen ausgewogen.

Kilborn gelingen zudem Figuren, um die wir bangen, weil er unser Interesse an ihnen wecken konnte. Eine Heldin ohne Beine ist keine Erscheinung, der wir in einem Hotel voller Mutanten besonders ausgeprägte Überlebenschancen einräumen würden. Aber gerade ihre Behinderung bzw. die daraus resultierenden Fähigkeiten machen aus Deborah Novacheck eine ernstzunehmende Gegnerin: Kilborn, der ansonsten eine aus tausend Filmen und Romanen bis zum Überdruss bekannte Geschichte erzählt, hat begriffen, wie er für das nötige Quäntchen Abwechslung sorgen kann. Hier ist es der Faktor Überraschung: Nachdem die Roosevelts vier Jahrzehnte verschleppt und gemordet haben, hat sich ihrerseits Routine eingestellt. Sie verlassen sich auf ihre Kraft und das Überraschungsmoment und sind daran gewöhnt zu obsiegen. Zu spät bemerken sie, dass sie sich dieses Mal übernommen haben, als sie gleich sieben entschlossenen ´Opfern´ gegenüberstehen.

Vorhang auf zum üblichen Gemetzel

Im letzten Drittel geht es dann zu jener Sache, auf die der Hardcore-Horrorfan schon längst wartet: Das Schleichen durch dunkle Kellerräume und Geheimgänge weicht der offenen Konfrontation. Gefangene werden nunmehr auf beiden Seiten nicht mehr gemacht. Dem evolutionären Status der Roosevelts entsprechend bleiben Schusswaffen fast völlig außen vor. Die Urzeit kehrt zurück - mit Messern, Steinen, spitzen Knochen und blanken Fäusten gehen die Kontrahenten aufeinander los.

Blut und andere Körperflüssigkeiten spritzen ausgiebig, auch die damit verbundenen Körperschäden werden von Kilborn gewissenhaft und detailfroh geschildert; er weiß, was er seine Kundschaft schuldig ist. Allerdings findet er im Eifer des blutigen Gefechts das manchmal notwendige Bremspedal nicht mehr und produziert Übertreibungen, die den Horror ins Lächerliche umschlagen lassen: Schon als die Schlacht in voller Stärke tobt, lassen die männlichen Roosevelts ständig die Hosen fallen, wenn ihnen eine Gegnerin gegenübersteht. Oma Pillbury erweist sich als Meisterin der asiatischen Kampfkunst, die sogar Chuck Norris in den Schatten stellt. Und während um sie herum ihre Söhne fallen, inszeniert Mutanten-Übermutter Eleanor eine aufwändige Hinrichtung.

Schade, denn solche Schlamperei ruiniert beinahe die bizarren Absurditäten, mit denen Kilborn seine Schlachtplatte zu würzen weiß. So ist das Rushmore Inn dem Wahnsinn der Hausherrin entsprechend in seinem Inneren ein Schrein für die Präsidenten der USA. In jedem Gästezimmer wird ein anderes US-Staatsoberhaupt gewürdigt. (Die Roosevelt-Hinterwäldler sind übrigens durchaus in der Lage, im Internet nach weiteren Exponaten zu fahnden!) Retter Cameron ist sogar noch verrückter als die Roosevelts. Ein Berglöwe greift hungrig ins Geschehen ein.

Das Ende ist niemals endgültig

Vom Klischee beinahe zur Tradition gereift ist der Backwood-Horror-Epilog: Während die endlich erschienene Polizei den Tatort aufräumt, schleicht sich im Hintergrund mindestens ein überlebender Mutanten-Lump in die Freiheit, um neues Unheil zu stiften. Im Film öffnet dies das Hintertürchen zu einer Fortsetzung, im Roman gilt ein solches Ende als bittere Ironie. Kilborn findet allerdings einen Dreh, diesen Epilog tatsächlich logisch zu gestalten.

Damit schließt ein Roman, dessen kopierter Plot und groben Effekte durch eine handwerklich solide Umsetzung, interessante Figuren und einige gelungene Überraschungen erstaunlich gut aufgefangen und getragen wird. Deshalb schenke man bloß der Werbung keinerlei Glauben, die sowohl in den USA als auch hierzulande plump auf der Kotzen-vor-Ekel-gleich-Heidenspaß-Schiene fährt. Der Werbe-Legende nach war dem eigentlich schon gefundenen US-Verlag der "Hotel"-Stoff viel zu heiß, weshalb der Autor seinen Roman im (digitalen) Selbstverlag herausbrachte. Allerdings ist dies der generelle Veröffentlichungsweg, den Kilborn eingeschlagen hat, weshalb diese Mär womöglich auf ihn selbst zurückgeht.

In Deutschland geht die Werbung nicht so dreist aber dafür ideenarm vor: "Der Sensationserfolg aus den USA - Jack Kilborn gibt dem Horror ein neues Gesicht!". Das eine ist eine unbelegte Behauptung, das andere Unfug: Jack Kilborn ist nur ein Glied in einer langen Kette von Autoren, die wie Richard Laymon, Bryan Smith, Tim Curran usw. auf den direkten, quasi körperlichen Horror setzen. "Neu" sind sie in ihrem massiven Auftreten höchstens in den deutschen Buchläden, wo sie allmählich ähnlich lästig werden wie die windelweichen Als-ob-Vampire der "Twilight"-Ära.

(Dr. Michael Drewniok, Juni 2012)

Das Hotel

Jack Kilborn, Heyne

Das Hotel

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