Der Leichenkönig

  • Atlantis
  • Erschienen: Januar 2011
  • 2
Der Leichenkönig
Der Leichenkönig
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Thomas Nussbaumer
80°1001

Phantastik-Couch Rezension vonDez 2011

Das Grauen unterminiert schottische Gottesäcker

Edinburgh zu Beginn des 19. Jahrhunderts: eine schmutzige und grobe Welt der Krankheiten und der Kriminalität. Die meisten Menschen stehen der Gosse (und überhaupt dem Tod) näher als der Aussicht auf ein achtbares Leben. Gauner, Diebe und Dirnen gehen mit beherztem Selbstverständnis ihrer Arbeit nach, auch wenn alle um die drakonischen Strafen wissen, die Gesetzesbrüchigen oder solchen drohen, die gegen religiöse Grundsätze verstoßen. Schnell landet einer am Galgen und doch scheint es den meisten Menschen unmöglich, dem Teufelskreis aus Armut und Alkoholismus zu entkommen, der wiederum den Nährboden für jedes kriminelle Gewerbe bildet.

Zwei, die das Fürchten lernen

Samuel Clow und Mickey Kierney sind zwei Grabräuber, die aus ihrer Not zwar keine Tugend, aber dennoch so etwas wie eine ´ehrliche´ Profession gemacht haben. Ihr inoffizieller ´Beruf´ ist einer der lukrativsten und gleichzeitig einer der verwerflichsten. Als Verbrecher bewegen sie sich in den untersten Gesellschaftsschichten, in derben Gaststätten, in denen es rustikal und unverkrampft zu- und hergeht und wo Besäufnisse und Schlägereien bis zur Besinnungslosigkeit noch Ehrensache sind. Davon abgesehen bleibt den beiden außer einem beinharten Sarkasmus nicht viel Lebensinhalt. Die Arbeit ist ja auch kein Zuckerschlecken. Als lichtscheues Gesindel schleichen sich die beiden ´Wiedererwecker´ auf die Friedhöfe um die frisch bestatteten Leichen aus ihren Gräbern zu zerren. Die verkaufen sie dann gleich an Chirurgen und Ärzte, bei denen wiederum großer Bedarf an Anschauungsmaterial für ihren Anatomieunterricht herrscht. In guten Nächten beliefern die Grabräuber die Anatomen gleich wagenweise und was sich nicht als ´Frischfleisch´ veräußern lässt, wird vorerst im eigenen Keller ´eingepökelt´ oder ´eingemacht´. Manch eine nicht mehr so frische Leiche hat noch ein gutes Skelett abgegeben, nachdem man das Fleisch von den Knochen gekocht hat. Clows Mutter führt währenddessen eine Pension und meuchelt nicht selten einen ihrer Gäste für ein paar Münzen. Ein reizendes Umfeld, das über kurz oder lang das Auge des Gesetzes auf sich ziehen muss. Aber noch sind Clow und Kierney nicht mit der Obrigkeit in Konflikt geraten. Einem ihrer Kollegen erging es einstweilen weniger gut, der wurde als abschreckendes Beispiel öffentlich gehängt und tot an den Pranger gestellt. Die Angst vor Bestrafung ist aber nicht das einzige, was sich langsam in die verknöcherten Herzen der Leichendiebe einschleicht. Da wäre auch noch die Schauermär vom Leichenkönig, der angeblich auf den nördlichen Grabfeldern sein Unwesen treibt, Tunnels gräbt und Leichen samt Grabsteinen verschlingt. Noch glauben die beiden Frohnaturen nicht recht an die Existenz dieses leichenfressenden Popanzes. Ist dieser Leichenkönig vielleicht nur ein eingebildeter Schrecken, der den gin-geschädigten Gehirnen der Grabräuber-Kommune entstammt? Zuletzt drängen Clow und Kierney die immer größer werdende Konkurrenz im ´Leichen-Business´ und pure Geldnot in den Wirkungskreis des Ungeheuers. Denn auf die nördlichen Grabfelder trauen sich bis jetzt nur wenige der Hartgesottenen...

Süffige ´weird history´

In seinem Vorwort gibt uns Curran einen kurzen Ausblick auf die Geschichte, die uns erwartet und ihre historischen Umstände: Die Städte Schottlands und Englands werden lebhaft als ein Sumpf aus Armut, Schmutz und Seuchen beschrieben. Elend wohin man sieht und die Toten liegen oftmals sogar mitten in der Gosse, was wiederum niemand zu kümmern scheint. Die moderne Medizin steht noch in den Kinderschuhen, daher rührt das schier unstillbare Bedürfnis der Ärzte und Anatomen nach frischen Leichen, die den Medizinern Aufschluss über die Funktionsweise des menschlichen Körper geben sollen. Die Toten sind ab nun nicht mehr Angelegenheit der Kirche, die bis anhin für das Seelenheil der Versorbenen besorgt war, sondern sie rücken immer stärker in den Fokus der Medizin. Die wenigen Verbrecher (besonders Mörder), die man offiziell den Anatomen zuspricht, reichen bei weitem nicht aus, um deren Bedarf zu stillen. Leichen sind gefragt und dafür bezahlen die Mediziner gut, denn es ist nach wie vor ein Tabu, an Leichen herumzuschnipseln. Und deren Beschaffung natürlich illegal. Clow und Kierney gehören zu den Verzweifelten, die ein Geschäft mit dem Tod betreiben, mit dem Risiko, irgendwann erwischt zu werden. Grabräuber waren geächtet und standen auf gleicher Stufe wie Mörder, verrät uns der Autor, der sein Thema gut recherchiert hat. Gerade die vielen Details zur ´Leichenbergung´ machen die Geschichte sehr einprägsam. Ein großes Plus der Story sind aber auch die beiden Protagonisten, Clow und Kierney, die einem beinahe ans Herz wachsen. Ihre markigen Dialoge sind wirklich erwähnenswert, sowie generell Currans lustvoll inszenierte Schauplätze.

Im Interview verrät uns Curran, dass ´der Leichenkönig´ ursprünglich als Kurzgeschichte geplant war und dann zu einer Novelle ausgebaut wurde, da die Recherchen eben immer mehr Material für diese Story lieferten. Er bezeichnet seinen Kurzroman als ´weird history´, als recherchierte Fakten, die mit einer guten Prise Phantastik aufgewertet werden. Ein Konzept, das wahrscheinlich nicht ganz neu ist, das aber in Currans Fall durchaus überzeugt. Die Story kann aber nicht ganz verbergen, dass es ihr manchmal ein wenig an Tiefe fehlt. Das Büchlein liest sich dennoch sehr flüssig und als Entschädigung für eine ausgefeilte Story sind da die gelungenen Beschreibungen der Friedhöfe zu nennen, der Gaststätten oder des Leichenkellers, dessen Gestank einem fast körperhaft in die Nase sticht. Das Grauen wird bei Curran gerne mit nicht zu knapp beigemessenen Adjektiven heraufbeschworen, so wie das auch die meisten seiner Kollegen und Kolleginnen tun. Ein Thema, das die Horrorzunft wahrscheinlich auch in Zukunft beschäftigen wird: wie viele Adjektive braucht es für detailreiche Schilderungen und wie viele kann man weglassen und trotzdem nichts von der Stimmung ruinieren? In Currans Stimme schwingt darüber hinaus ein barocker Zynismus mit, der den "Leichenkönig" als bitterböse Satire kennzeichnet. Mit ´history´ hat das Ganze freilich nicht viel zu tun, aber unterhaltsam ist es allemal.

(Thomas Nussbaumer, Januar 2012)

Der Leichenkönig

Tim Curran, Atlantis

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