Andere Tage, andere Augen

  • Goldmann
  • Erschienen: Januar 1974
  • 1
Andere Tage, andere Augen
Andere Tage, andere Augen
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Michael Drewniok
75°1001

Phantastik-Couch Rezension vonApr 2012

Albtraum allgegenwärtiger Transparenz

Alban Garrod ein fähiger Ingenieur und leidlich erfolgreicher Unternehmer, stellt ein neuartiges, besonders sichtklares Fensterglas vor. Was ihm einen bescheidenen Erfolg sichern soll, wird zu einer wissenschaftlichen Sensation und einem Verkaufsschlager: Garrods Erfindung kann Lichtstrahlen nicht nur durchlassen, sondern sie auch verlangsamen. Auf diese Weise konserviert das Glas alles, was sich vor ihm abspielt, und spiegelt es perfekt nach Tagen, Wochen, Monaten oder Jahren wider.

Als es Garrod und seinem Team gelingt, das "Langsamglas" so zu verändern, dass sich die Wiedergabe nach Belieben steuern lässt, wird aus einer Kuriosität ein Milliardengeschäft: So lassen sich "Retardit"-Scheiben, die das Tageslicht "eingefangen" haben, nachts als kostenlose Straßenbeleuchtung einsetzen.

Auch Behörden und Regierungen werden aufmerksam: Selbst winzige Stücke des Glases stellen perfekte Aufzeichnungsinstrumente dar, die ohne Energiezufuhr funktionieren und praktisch unzerstörbar sind. Gern nutzen Polizei und Justiz die Chance, ahnungslos während der Tat "abgelichtete" Gesetzesbrecher zu überführen. Doch der Vorteil kann ausgenutzt werden: Geheimdienste können durch taktisch platzierte "Retardit"-Splitter nicht nur Staatsfeinde, sondern auch ahnungslose Staatsbürger ausforschen. Auch das organisierte Verbrechen wird aktiv und findet Wege, die Aufzeichnungspräzision des Glases kriminell zu manipulieren.

Im Laufe der Jahre erkennt ein reich und mächtig gewordener Alban Garrod, welche Pandora-Büchse er ahnungslos geöffnet hat. Sein Glaube an das Gute seiner Schöpfung schwindet, als er erkennen muss, dass keineswegs nur die Regimes korrupter Drittwelt- und Schurkenstaaten das "Langsamglas" missbrauchen, sondern auch die eigene Regierung nicht widerstehen konnte ...

Faszination einer Idee

In den 1960er Jahren beschäftigte sich der Science-Fiction-Schriftsteller Bob Shaw mit der Idee eines Glases, das durch Lichtstrahlen fixierte Ereignisse perfekt aber zeitverzögert durchscheinen lässt. Shaw, der unter einer ernsten Augenkrankheit litt und in seinen späteren Lebensjahren beinahe erblindete, war fasziniert und spielte die möglichen Konsequenzen einer solchen Erfindung durch. 1966 veröffentlichte er in der August-Ausgabe des SF-Magazins "Analog" die Kurzgeschichte "Light of Other Days", die 1967 für einen "Hugo" sowie einen "Nebula Award" nominiert wurde. Herausgeber John W. Campbell, Jr. war begeistert von dieser Story, der Niven 1967 die Erzählung "Burden of Proof" folgen ließ. Fünf Jahre später arbeitete er den Plot um das "Langsamglas" zu einem Roman um, dem er die Storys als "Streiflichter" einfügte. Sie griffen über die Rahmenhandlung hinaus und stellten Aspekte heraus, die sich außerhalb des Erfahrungshorizontes der eigentlichen Hauptfigur abspielten.

Das Ergebnis war ambivalent. "Other Days, Other Eyes" gilt als Klassiker der modernen Science Fiction. Legt man kritische Maßstäbe an, kann der Roman zumindest heute die Bedingungen für diesen Status selbst dann nicht oder nur bedingt erfüllen, wenn man die Entstehungszeit berücksichtigt. Doch nicht die offensichtlichen Anachronismen, die jede SF-Geschichte altern lassen, sorgen für Irritationen: Dass die Automobile in jener Endphase des 20. Jahrhunderts, die für Shaw 1972 noch die (nahe) Zukunft darstellte, mit Turbinen angetrieben werden, dürfte schon damals ein nettes, vor allem nach SF klingendes Detail gewesen sein: Die Nachteile eines derartigen Motors und seine Untauglichkeit für den Pkw-Einsatz hatten sich bereits herausgestellt.

SF-Autoren gelten heute längst und zu Recht nicht mehr als Verkünder einer (technisch orientierten) Zukunft. Sie irren sich ebenso häufig wie jene "Fachleute", die sich anmaßen, "wissenschaftlich" in die noch ungeschehene Nachzeit blicken zu können. Deshalb stört ebenfalls nicht, dass Shaws Zukunft grundsätzlich die Gegenwart (der 1970er Jahre) atmet. Ihm geht es um ‚sein' "Langsamglas" und die (dramatischen) Möglichkeiten, die in ihm stecken.

Ein längst Realität gewordener Albtraum

Auf dieser Ebene ist Andere Tage, andere Augen tatsächlich ein Werk, das viele Jahrzehnte später mit Interesse und Genuss gelesen werden kann. Shaw hat intensiv über sein Thema nachgedacht und ist deshalb in der Lage, sämtliche Konsequenz-Ebenen aufzulisten und abzuhandeln. Dass ein Glas - oder besser: ein Kristall -, das oder der Lichtstrahlen quasi ‚einfangen' und verzögert weiterschicken kann, in der praktischen Physik inzwischen ansatzweise tatsächlich realisiert wurde, ist interessant aber ebenfalls nebensächlich. Ungeachtet des (ohnehin auch den technischen Laien eher amüsierenden als überzeugenden) Technobabbels, dessen sich Shaw (sparsam) bedient, steht der Mensch im Mittelpunkt der Ereignisse: Wie wird eine an sich geniale und nützliche Erfindung die Gesellschaft prägen?

Die Tragweite liegt auf der Hand. Shaw konnte 1972 und lange vor der digitalen Revolution u. a. auf das Telefon, den Verbrennungsmotor oder makromolekulare Kunststoffe (Plastik) zurückblicken, die politisch, wirtschaftlich, sozial und kulturell die Welt umwälzend und unbestritten beeinflusst hatten. Dabei war jedes Mal deutlich geworden, dass der Fortschritt Schattenseiten besitzt: Es gibt keine grundsätzlich segensreiche Erfindung, die sich nicht als Instrument der Unterdrückung oder als Waffe missbrauchen ließe.

Zwar lag die Watergate-Affäre noch zwei Jahre in der Zukunft, als Shaw Andere Tage, andere Augen 1972 veröffentlichte. Längst hatte jedoch Misstrauen breite Bevölkerungsschichten auch dort erfasst, wo man lange der Regierung, dem Militär oder anderen etablierten Kräften Glauben geschenkt und ihren Anordnungen Folge geleistet hatte. Dass nur Kriminelle ein perfektes Überwachungssystem fürchten, ist ein "Argument", das auch Shaw aufgreift - und ad absurdum führt, indem er ausgerechnet Alban Garrod, der das entsprechende Instrument erfunden hat, erfahren und begreifen lässt, das seine bzw. jede Regierung und ihre ausführenden Organe Informationen niemals nur zweckgebunden sammeln und auswerten, sondern ‚vorsichtshalber' immer tiefer bohren werden.

Verfasser mit Durchblick

Doch der freie Mensch benötigt Freiräume, selbst wenn er diese eigennützig missbrauchen könnte - und dies oft tun wird. Nur auf diese Weise lässt sich organisierte Macht kontrollieren, lassen sich notfalls Maßnahmen zu ihrer Eindämmung treffen: Kein Wunder, dass Diktaturen stets mehr Spitzel als Soldaten beschäftigen, um genau dies zu verhindern.

Shaw war prinzipiell erstaunlich hellsichtig. Im 21. Jahrhundert gibt es kein "Retardit", das perfekte Bilder aufzeichnet. Stattdessen gibt es flugfähige Kameradrohnen und Kameras, die aufgrund der fortschreitenden Nanotechnik wahrscheinlich bald molekülwinzig bleiben werden und trotzdem ihre Funktion erfüllen können. Damit rückt Shaws Annahme, dass Spionagekameras wie Unkrautvernichtungsmittel aus Flugzeugen versprüht werden können, in den Bereich des Greifbaren.

Andererseits bleibt Shaw latent optimistisch: Als die Bürger der freien Welt erfahren, dass und wie sie überwacht werden, zwingen sie ihre Regierungen zum Verbot von "Retardit". Shaw geht offenbar von einer Umsetzung aus; jedenfalls ortet er diejenigen Mächte, die sich dem nicht anschließen, in jenen Teilen der Welt, die von den genannten Schurken-Regimen beherrscht werden. Angesichts der Praktiken, der die westlichen Geheimdienste inzwischen überführt wurden, würde Shaw heute sicherlich zu einem weniger versöhnlichen Finale neigen ...

Supertechnik vs. Menschenschwäche

Dem kritischen Leser bleibt zum einen die strukturelle Schwäche dieses ‚Romans' im Gedächtnis, der nur einen roten Faden aber kaum eine dramatische Entwicklung aufweist. Garrod entdeckt das "Langsamglas". Er findet heraus, wie man ihm die gespeicherten Bilder entlockt. Garrod entlarvt eine Verschwörerbande und einen Attentäter, die ihre Taten mithilfe des Glases begingen. So geht es weiter: Episode reiht sich an Episode, und die Reihenfolge ließe sich recht problemlos ändern.

Verhängnisvoller ist jedoch Shaws Entscheidung, die SF-Technik durch zwischenmenschliche Konflikte zu erden. Über das entsprechende Talent verfügt er nicht. Die unglückliche Ehe zwischen Alban und Esther sowie die aufkeimende Liebe zwischen Alban und Jane reihen primär Klischees aneinander - und dies nicht einmal unterhaltsam, sondern trivial. Dramatische Emotionalität wird behauptet, bleibt aber aus und sorgt zum Nachteil der Gesamtgeschichte für Längen in einem insgesamt angenehm kompakten Roman, dessen Übersichtlichkeit dafür sorgt, dass sich der Seifenschaum in Grenzen hält und eine unbestreitbar gute Idee nicht unter sich begräbt.

Andere Tage, andere Augen

Bob Shaw, Goldmann

Andere Tage, andere Augen

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