Flammenalphabet

  • Hoffmann und Campe
  • Erschienen: Januar 2012
  • 0
Flammenalphabet
Flammenalphabet
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Almut Oetjen
86°1001

Phantastik-Couch Rezension vonSep 2012

Sprache als Virus

Die Familie Sam, Claire und ihre vierzehnjährige Tochter Esther lebt in einem Suburb und gehört der Sekte der Waldjuden an, die jeden Donnerstag eine Waldsynagoge aufsuchen und Objekte antisemitischer Karikaturen sind.

In diesem Suburb entwickelt sich eine sehr spezifische Form des Grauens, indem die Sprache eine toxische Wirkung entfaltet. Immer wenn Esther, von der die Krankheit auszugehen scheint, spricht, reagieren ihre Eltern mit Schmerzen. Sie bekommen ein eingefallenes Gesicht, der Körper verfällt. Die Krankheit breitet sich schnell über weitere Kinder aus. Eltern fliehen vor ihren Kindern, Kinder quälen Erwachsene mit ihrer Stimme, jagen sie in Gruppen und in den Tod. Die Eltern werden von ihren Kindern getrennt und in Camps gebracht, wo Wissenschaftler an einer Lösung des Problems arbeiten, während täglich Menschen sterben und andere ihr Leben im Schmerz verbringen. Sam ist als ein leitender Wissenschaftler an der fieberhaften Forschung beteiligt.

 

"Die Sprache fungiert wie eine Säure über ihrer Botschaft. Wenn du kein Interesse mehr an einer Idee oder einem Gefühl hast, verpack es in Sprache. Das wird gewiss sein passendes Ende sein."

 

Die achte Plage

Das Fundament unserer Zivilisation, die Sprache, die es uns zumindest grundsätzlich ermöglicht, uns über das Leben, Kultur, Religion und weitere Themen zu verständigen, wird aus unbekannten Gründen zu einer Art Gift. Wie im modernen Horrorfilm üblich, gibt es in Marcus' Roman keine langsame Exposition, in der wenigstens eine Figur vorgestellt oder eine Ausgangssituation beschrieben würde. Wir werden in der hervorragenden Eingangsszene in den grausigen Alltag des bereits erkrankten Erzählers gezogen, der mit seiner Frau Vorbereitungen trifft, vor der eigenen Tochter und den Kindern aus der Nachbarschaft zu fliehen:

 

"Wir gingen an einem Schultag, damit Esther uns nicht sah. In meiner Tasche, die ich packte, als meine Frau, Claire, im Schlaf schließlich gegen die doppelt verriegelte Schlafzimmertür gefallen war, versteckte ich ein Fernglas, dazu schalldämpfende Textilien und genügend zusammengerollten Schaumstoff, um darin zwei Erwachsene zu verstecken."

 

Es ist eine absurde Welt, in der der Anwendungsbereich des Instruments, das wir am stärksten für die Kommunikation benötigen, sich zunehmend verengt, und in der wir nicht einmal mehr mit den Menschen kommunizieren können, die wir lieben.

Der Böse des Romans, LeBov, hat die ersten theoretischen Gedanken zu der Infektion entwickelt. Er gibt dem toxischen jüdischen Kind die Schuld. Kommunikation ist für ihn die primäre Allergie. Er will aus der Erde eine Art Ursprache gewinnen, eine allgemeine Sprache, die nicht korrumpierbar ist.

Aber da die Natur immer einen Weg findet, dürfte es dem Menschen gelingen, auch eine solche Sprache in die Vieldeutigkeit, in die Bedeutungsleere zu treiben und sie nach Gutdünken zu missbrauchen. Das Problem, das wir Menschen mit der Sprache haben, ist keins der Sprache, sondern eins der Menschen. Vielleicht ließe sich ein Komplementärband schreiben, in dem es heißt: Am Anfang war das Wort, das Mensch wurde, missbraucht wurde und sich vom Menschen löste, um ihn aus der Erde neu zu erschaffen. Auch religiös unterfüttert, aber vielleicht Erfolg versprechender. Mit Blick auf dieses mögliche Anliegen des Buchs könnte man geneigt sein, es als zu rätselhaft und ambivalent zu interpretieren, wodurch es eine Art Kind der Welt ist, deren Problem es beschreibt und zur Diskussion stellt.

Verbindungen zur Außenwelt

"Flammenalphabet" stellt eine Vielzahl von Verbindungen zum außertextlichen Umfeld her. Zentrales Verbindungselement ist eine Zeitschrift mit dem Titel "Die Beweise". Darin wird unter anderem die Historie von Sprachvergiftungen nachvollzogen. Erkenntnisse und Vorstellungen seit dem 16. Jahrhundert werden diskutiert. Die bekannte Sapir-Whorf-Hypothese, das Prinzip der sprachlichen Relativität, geschwärzter Kortex, das Wernicke-Areal sind nur ein paar Stichworte neuerer Entwicklungen, auf die Marcus sich bezieht. Sie sind allesamt leicht im Web nachzusehen...

Interessant ist eine mögliche Verbindung zwischen Marcus und William S. Burroughs. Der stellt in seiner Schrift "Electronic Revolution" (Bonn, Expanded Media Edition, 1982, S. 59ff.) die These auf, die ganze menschliche Sprache könne ein Virus sein: "I have frequently spoken of word and image as viruses or as acting as viruses, and this is not an allegorical comparison."

Zurück geht diese Vorstellung vermutlich auf Laurie Anderson und ihren Song "Language is a Virus", aus dem Jahr 1979.

Während die Vorstellung von der Sprache als Virus bei Anderson und Burroughs lediglich eine Stilfigur ist, macht Marcus daraus ein tragendes und kraftvolles erzählerisches Element. Trotz seiner linguistischen Querbezüge ist "Flammenalphabet" ein trauriges Buch über den Verfall des Individuums, privater Beziehungen und des Gemeinwesens. Marcus begibt sich zwar auf den einen oder anderen diskursiven Seitenweg, entwickelt auf der Hauptstraße aber eine konsequente und gut durchdachte Erzählung mit interessanten Wendungen.

(Almut Oetjen, September 2012)

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