Eiskalt wie das Blut
- Droemer-Knaur
- Erschienen: Januar 2011
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Heißblütiger Geist aus eisiger Wasserflasche
Einst wurde Eric Shaw in Hollywood als großes Filmtalent gefeiert, doch nachdem er sich mit einem sowohl berühmten als auch nachtragenden Regisseur angelegt hatte, nahm seine Karriere ein abruptes Ende. Inzwischen kann man ihn als Kameramann für Hochzeiten anheuern. Shaw ist unglücklich, und zu allem Überfluss hat er Gattin Claire in einem Anfall von Selbstmitleid verlassen.
Als ihm Alyssa Bradford, verheiratet mit einem schwerreichen Geschäftsmann, das Angebot unterbreitet, eine Dokumentation über ihren Schwiegervater zu drehen, wähnt sich Shaw endlich wieder im Aufwind. Campbell Bradford hatte das Familienvermögen in den 1920er Jahren gemacht, wobei er das Gesetz generell mit Missachtung strafte. Nun ist er 95 Jahre alt und liegt im Sterben. Alyssa möchte ihren Ehemann mit einem Film über den Vater überraschen.
Campbell Bradford stammt aus dem US-Staat Indiana. Die Nachbarstädtchen French Lick und West Baden wurden berühmt durch ihre Heilquellen, über denen man zwei monumentale Hotels - das French Lick Springs Resort und das West Baden Springs Hotel - errichtete, die noch heute als architektonischen Meisterleistungen gelten. Hier beginnt Shaw mit seinen Ermittlungen, die ihn u. a. auf die Spur des "Pluto-Wassers" bringen, das ganz besondere Eigenschaften besitzt: Als Shaw neugierig von einer uralten Flasche nippt, überfallen ihn Visionen einer gewalttätigen Vergangenheit, die Campbell Bradford als Schwarzbrenner und Mörder enttarnen.
Tatsächlich hat Shaw einen bösen Geist geweckt, der seit 1929 auf seine Chance zu Wiederkehr und Rache wartet. In seinem Urenkel Josiah, einen nichtsnutzigen, verbitterten Redneck, findet Campbell den idealen Handlanger. Als Shaw merkt, was er angerichtet hat, versucht er verzweifelt, den Geist zurück in seine Flasche zu zwingen. Aber Campbell wird immer stärker und beginnt, ahnungslosen Pechvögeln offene Rechnungen zu präsentieren ...
Hotel-Kathedralen in einsamer Wüste
Am Anfang dieses Romans stand keine Handlungsidee, sondern die Erinnerung an einen Ort, der eine dazu passende Geschichte quasi von selbst heraufbeschwören konnte. Autor Koryta wuchs unweit der Kurorte French Lick und West Baden auf, die es wie die beiden gleichnamigen Hotels tatsächlich gibt. Sie wurden in den "Roaring Twenties" des 20. Jahrhunderts praktisch in der Wüste errichtet, in der sie wie verwunschene Kathedralen oder Schlösser schon aus weiter Entfernung sichtbar sind.
Prominente Politiker, reiche Geschäftsleute und illustre Persönlichkeiten wie Joe Louis, der Boxer, oder Al Capone, der Gangster, erholten sich hier von den Mühen des Alltags. Ähnlich wie später in Las Vegas engagierte die Geschäftsleitung berühmte Komiker, Sänger oder Bands, die den Gästen aufspielten. In der Weltwirtschaftkrise begann der Niedergang. Kaum jemand konnte sich den Aufenthalt noch leisten. Die Hotels wurden nicht mehr unterhalten und verfielen allmählich. Ihre imposanten Ruinen beschäftigten die Fantasie des jungen Michael Koryta, der sich an die Häuser erinnerte, als diese Anfang des 21. Jahrhunderts aufwändig im Stil der Entstehungszeit renoviert und wiedereröffnet wurden.
Der Kontrast zwischen der künstlichen Pracht und der urwüchsigen Landschaft ließ Koryta über die Möglichkeit einer spannenden Geschichte nachdenken, die zusätzlich die Besonderheiten der Ortshistorie berücksichtigte: Um die Hotels entstand eine Infrastruktur, die nicht auf die gesetzlich sanktionierten Erwerbsmethoden beschränkt blieb.
Böser Mann mit starkem Willen
Die 1920er Jahre standen im Zeichen der Prohibition. Der verbotene Alkohol wurde schwarz gebrannt und geschmuggelt; der einträgliche Handel zum Durchbruch des organisierten Verbrechens in den USA. An sämtlichen Stationen der Vermarktungskette ging es rau und gefährlich zu, denn nicht nur die Polizei oder das FBI waren Gegner. Die kriminelle Konkurrenz kämpfte untereinander um Marktanteile und beseitigte dabei nicht selten lästige ´Kollegen´.
Campbell Bradford ist die Verkörperung des typischen Kleinkriminellen, der über den Ehrgeiz und die Skrupellosigkeit verfügt, die ihm den Weg in die vorderen Ränge des organisierten Verbrechens bahnen können. Koryta fügt seinem Wesen deutlich psychopathische Elemente bei, die sich primär in einem Willen manifestieren, der keinen Widerspruch duldet. Wer sich Campbell in den Weg stellt, muss sterben.
Schnell entwickelt sich diese Kompromisslosigkeit zum Cäsarenwahn. Campbell erhebt faktisch das Herrschaftsrecht über ´sein´ Tal, in dem die Städte French Lick und West Baden liegen. In seiner brutalen Alltagswelt dauert es nicht lange, bis Campbell die Rechnung präsentiert wird. Doch der Geist ist stärker als das Fleisch: Sein unbändiger Wille lässt Campbell den Tod ´überleben´. In einer Zwischenwelt sinnt er auf Rache und wartet auf die Gelegenheit zur Rückkehr, um einerseits den eingeschlagenen Weg fortzusetzen und sich andererseits an denen zu rächen, die seine Herrschaft nicht anerkennen wollten.
Geist aus der (Wasser-) Flasche
Einen der Schwachpunkte dieser Geschichte bildet die schwierig zu definierende Rolle des Eric Shaw. Ist er für Campbells Wiederkehr verantwortlich. Wird er nur zufällig Zeuge dieses Ereignisses? Koryta liefert keine Antwort. Erschwerend kommt hinzu, dass er seine Hauptfigur schwächt: Der alte Campbell fährt nicht in den Dokumentarfilmer Shaw, der ihm nach dem Genuss des "Pluto"-Wassers auf die Schliche kam, sondern in seinen Nachfahren Josiah. Wieso duldet er die Nachstellungen des hellsichtigen Shaw und liefert ihm sogar zusätzliche Visionen?
Campbells Motivation bleibt freilich generell unklar, seine Rachepläne wirken seltsam unausgegoren. Nie wird deutlich, an wem genau er sich rächen will. Ihm ist offenbar bewusst, dass jene, die ihm einst alles Üble wünschten, seit Jahrzehnten nicht mehr leben. Niemand fürchtet sich mehr vor Campbell Bradford, und kaum jemand erfährt von seiner Wiederkehr. Außerdem weiß Campbell nicht, welches Unheil er eigentlich stiften will. Mit einigen Stangen uralten Dynamits sind seine Möglichkeiten ohnehin eingeschränkt. Nicht einmal die (angedachte aber nie ernsthaft angegangene) Sprengung der beiden Hotels dürfte ihm damit gelingen.
Helfen könnte höchstens der große Sturm, den Koryta über das Tal kommen lässt. Für den zeichnet Campbell aber nicht verantwortlich. Nach langer Ankündigung entpuppt sich das Unwetter als dramatische Untermalung für ein Finale, das jetzt doch Shaw gegen Campbell antreten lässt. Damit dies logischer wirkt, hat sich Shaw kurz zuvor mit Gattin Claire versöhnt, die deshalb anreist und vom besessenen Josiah entführt werden kann.
Mysteriöse Längen im Mittelteil
Eine Liste ähnlich peinlicher Fragen an den Verfasser würde ziemlich lang werden. An dieser Stelle sei deshalb nur noch angemerkt, dass Campbell und Shaw im Mittelteil allzu ausgiebig einander umkreisen, ohne dass Handlungsrelevantes geschieht. Auch die Figur der alten Anne McKinney könnte ersatzlos gestrichen werden. Als Bindeglied zwischen Vergangenheit und Gegenwart weiß Koryta wenig mit ihr anzufangen.
In Sachen Mystery trumpft der Autor dagegen auf. Er hat ausgiebig recherchiert und ist in der Lage, seinen Lesern sowohl die beiden alten Hotels als auch im Kontrast dazu die urwüchsige Landschaft nahezubringen. Das French Lick Springs Resort, das West Baden Springs Hotel und das Land, auf dem beide stehen, können eine ereignisreiche Vergangenheit für sich reklamieren. Für Geisterspuk ist hier Raum genug, und Koryta weiß ihn stimmungsvoll zu beschwören.
So fällt das Urteil über dieses Buch letztlich trotz gewisser Defizite positiv aus. Für deutsche Leser folgt abschließend ein wichtiger Hinweis: "Anspruchsvolle Krimifreunde sollten sich den Namen Koryta merken", wird das Magazin "stern" auf dem rückwärtigen Cover zitiert. Überhaupt wird "Eiskalt wie das Blut" als Kriminalroman vermarktet, der er ganz gewiss nicht ist. Es wäre schade, wenn einer der ´echten´ und raren (sowie kompetent übersetzten) Mystery-Thriller, die hierzulande zwischen "chick-lit"-Gruselklein und Kopf-ab-Horror erscheinen, deshalb sein Zielpublikum verfehlte.
(Dr. Michael Drewniok, Mai 2013)
Michael Koryta, Droemer-Knaur
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