Der Hauch des Drachen

  • Heyne
  • Erschienen: Januar 1984
  • 0
Der Hauch des Drachen
Der Hauch des Drachen
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Michael Drewniok
95°1001

Phantastik-Couch Rezension vonJul 2021

Alt-Spuk und Super-Gift als teuflisches Duo

Hampstead in der US-Provinz Connecticut ist ein Städtchen, das wohlhabende Neubürger und Künstler aus dem nahen New York anlockt, die hier an der Atlantikküste einen ruhigen Wohnort mit historischem Charme finden. Sie sind willkommen, werden aber über die dunklen Kapitel der Stadtgeschichte tunlichst im Unklaren gelassen. Schon mehrfach haben Serienmörder in Hampstead ihr Unwesen getrieben. Darüber hinaus gab es einige bizarre Katastrophen, die zahlreiche Todesopfer forderten.

Die Angehörigen der alteingesessenen Familien sind mit diesen Vorfällen vage vertraut, doch nur wenige wie der Schriftsteller Graham Williams wissen Näheres: Die üblen Ereignisse folgen einem Zyklus; sie ereignen sich ziemlich genau alle dreißig Jahre und lassen sich bis in die erste Hälfte des 17. Jahrhunderts zurückverfolgen. Damals kam ein Mann namens Gideon Winter in das noch junge Hampstead. Die Bürger nannten den ehrgeizigen und rücksichtslosen Mann bald den „Drachen“. Winter sorgte dafür, dass die Stadt in einer Gewaltorgie beinahe völlig zerstört wurde - und der „Drachen“ kehrte seither immer wieder zurück.

Dieses Mal spielt ihm der Zufall in die Klauen. In einer stadtnahen militärischen Versuchsstation entweicht ein kaum erforschtes Kampfgas. Die Wolke senkt sich über Hampstead und sorgt für eine rasch ansteigende Kurve grotesker Gewalttaten und Halluzinationen, die oft freilich real sind. Die Macht des „Drachen“ nimmt sprunghaft zu, und er sieht seine Chance, nach mehrfachen Rückschlägen endlich eine dauerhafte Herrschaft des Terrors zu etablieren. In den Weg stellen sich ihm die letzten Mitglieder der vier ältesten Familien der Stadt. Kann der „Drache“ sie ausschalten, wird sein Triumph vollkommen sein …

Tief im (manchmal schwarzen) Herzen Amerikas

In den 1980er Jahren gab Stephen King in der Horror-Literatur den Ton an - und dies nicht nur, weil seine Werke Rekordauflagen erreichten. Er hatte seine spezielle Nische gefunden und weckte auch das Interesse eines Publikums, das normalerweise nicht die Phantastik favorisierte. Dies gelang King, weil das von ihm präsentierte Grauen im (US-amerikanischen) Lebensalltag der kopfstärksten Gesellschaftsschichten wurzelte, dem auch seine Leser angehörten.

Mit sicherer Schreibhand schrieb King über scheinbar intakte Gemeinschaften, die in eine Krise gerieten, welche Sicherheit und Leben gefährdete und dabei das soziale Gefüge auf die Probe stellte. Traditionelle Werte wurden stellvertretend vom ‚Bösen‘ herausgefordert; nicht immer bestanden sie diese Probe, denn hinter der Fassade hochgehaltener Tugenden lauern - so King - oft Schwäche, Niedertracht und Lüge.

Das ‚Rezept‘ war so erfolgreich, dass es einen wahren Lemming-Schwarm von Nachahmern auf den Plan rief. In der Regel scheiterten selbst diejenigen, die über Talent verfügten, an der eben doch nicht so simplen Struktur eines ‚typischen‘ King-Romans; dies erst recht, wenn sie schlicht kopierten, wo ihre eigene Stimme hätte hör- bzw. lesbar werden sollen.

Autor mit einem Lauf

Dass neben Stephen King Platz für gute Autoren blieb, machten außer Dean Koontz - dem allerdings oft genug die Luft für eine Geschichte ausging, die ihre Leser wirklich ergreift und mitnimmt - vor allem Dan Simmons, T. E. D. Klein und Peter Straub deutlich. Ersterer legte mit „Summer of Night“ (1991; dt. „Sommer der Nacht“) sicherlich den besten King-Roman vor, den King nicht geschrieben hat. Letztere standen ihm mit „The Ceremonies“ (1984; dt. „MorgenGrauen“) bzw. „Floating Dragon“ (dt. „Der Hauch des Drachen“) 1983 kein Jota nach.

„Der Hauch des Drachen“ ist ein echtes Schwergewicht des Genres - inhaltlich wie formal ein ehrgeiziges Werk. Straub hatte sich als ‚richtiger‘ Schriftsteller einen Namen gemacht, bevor er 1979 mit „Ghost Story“ (dt. „Geisterstunde“) einen ersten Phantastik-Roman vorlegte, der bereits den ewigen, epischen Kampf zwischen Gut und Böse in die Kulisse einer Kleinstadt verlegte. Schon im folgenden Jahr erschien „Shadowland“ (dt. „Schattenland“), der den erwähnten Kampf auf zwei Jugendliche fokussierte, die an einen echten Schwarzmagier gerieten.

1983 vervollständigte „Der Hauch des Drachen“ das eindrucksvolle Romantrio, dem 1984 noch „The Talisman“ folgte, den Straub zusammen mit Stephen King verfasste. Damit schloss sich ein Kreis, und Straub orientierte sich literarisch anschließend neu. Sein Horror wurde filigraner, komplexer, verschlüsselter - aber leider nicht unbedingt besser. (Falls jemand die inhaltliche Ähnlichkeit zwischen „Der Hauch des Drachen“ und Kings „It“ [„Es“] anmahnen möchte: Dieses Werk erschien erst drei Jahre nach Straubs Roman.)

Das Grauen war schon immer da

Für „Der Hauch des Drachen“ fuhr Straub auf, was die Phantastik seiner Ära zu bieten hatte: Dämonen, Gespenster, Untote sowie einige groteske Eigenschöpfungen wie die „Triefer“ gehen um. Er nimmt sich - vor allem aus heutiger Sicht - viel Zeit, um uns mit Hampstead und seinen Bewohnern vertraut zu machen. Dabei geht er über das zentrale Figurenpersonal hinaus und scheint sich in biografischen Details zu verzetteln, die für das Geschehen keine Bedeutung haben.

Doch ungeachtet der Seitenstärke ist „Der Hauch des Drachen“ ein bemerkenswert ‚dichter‘ Roman, der viel Aufmerksamkeit fordert, weil Straub auf die besagten Details zurückkommt. Sie tragen zur Entstehung eines Bildes bei, das Hampstead als Ort der Verdammnis zeigt, der zur Hölle fahren soll: So wird es jedenfalls enden, sollte der „Drachen“ siegen. Bis die Entscheidung fällt, spiegelt sich vergangenes und gegenwärtiges Wirken in Einzelereignissen wider, die nach und nach zur Historie des „Drachen“ formen, der immer auch Hampstead war und ist.

Über die genaue Natur des „Drachen“ schweigt sich Straub aus. Das Böse bleibt eine nicht wirklich verständliche Macht, die einen Platz in der ‚realen‘ Welt wünscht sowie Menschen versucht, die es für seine Zwecke missbrauchen kann. So handelte im 17. Jahrhundert Gideon Winter, nun ersetzt ihn der angesehene Dr. van Horne. Der „Drachen“ kennt und nutzt den Ehrgeiz der Menschen, ihre Gier und Angst. Er hegt keine Welteroberungspläne, sondern wäre zufrieden damit, Hampstead in seine Privathölle zu verwandeln. Mehrfach hat er es schon versucht. Obwohl er zurückgeschlagen wurde, konnte man ihn nicht töten, denn der „Drachen“ kann ohne Wirtskörper existieren. Erst wenn er wieder aktiv werden will, schlüpft er in ein neues Opfer.

Unterzählig gegen das personifizierte Böse

Genretypisch scheint das Böse in jeder Hinsicht übermächtig zu sein. Ihm stellen sich in Hampstead vier Personen entgegen, die sorgfältig so charakterisiert werden, dass sich der Gedanke an Heldenmut gar nicht erst einstellt. Richard Allbee, Graham Williams, Patsy McCloud und Tabby Smithfield sind eigentlich keine Gegner. Ihre privaten Schwierigkeiten nutzt der „Drachen“ gezielt aus, um sie schon vor einer finalen Konfrontation zu schwächen. Liebe, Familie, Freundschaft: Sie erleiden dort schwere Verluste, wo es sie am härtesten trifft, doch sie ertragen diese Schläge nicht nur, sondern schöpfen Kraft daraus. So werden sie schließlich doch zu Helden, die zum Endkampf gegen den „Drachen“ antreten.

Aufwändig knüpft Straub seine vier Hauptfiguren in die Geschichte von Hampstead ein. Mitglieder ihrer Familien haben schon immer gegen den „Drachen“ gefochten und ihn zurückgetrieben. Selbstverständlich ist die Lage dieses Mal besonders ernst: Richard, Graham, Patsy und Tabby sind die letzten noch lebenden Hüter ‚ihrer‘ Stadt. Zu allem Überfluss bekommt der Feind einen unerwarteten Verbündeten: DRG 16 ist nicht nur ein allzu unbekümmert entwickeltes, in seiner Wirkung nie wirklich erforschtes Nervengas, sondern womöglich ein Organismus, der dem „Drachen“ ungewollt den Weg ebnet, indem er Körper und Geist der Bürger von Hampstead schwächt, sodass sie die Gefahr durch den „Drachen“ nicht mehr einschätzen, geschweige denn darauf reagieren können.

Straub flutet sein Garn förmlich mit übernatürlichem Schrecken. Manchmal nur in Nebensätzen beschreibt er lakonisch die grausamen Schicksale uns zuvor vorgestellter Figuren. Selbstverständlich übertreibt er es mit dem Epischen. Vor allem das Finale will kein Ende nehmen, während die Gefühle buchstäblich schäumen. Doch Straub hält (unterstützt vom Übersetzer) auch in solchen Passagen das Ruder fest in der Hand. Anders als King weicht er vom ‚einfachen Wort‘ ab, wenn er es für notwendig hält. Der Endkampf mit dem Drachen verlagert sich deshalb (vielleicht zu) weit ins Metaphysische. Nichtsdestotrotz bleibt „Der Hauch des Drachen“ über die gesamte Distanz ein phantastischer Pageturner der Oberklasse; ein moderner Klassiker, an den viele Jahrzehnte nach seinem Erscheinen nur wenige Werke heranreichen!

Fazit:

Der epische Kampf zwischen Gut und Böse tobt stellvertretend in einem US-Provinzstädtchen. Inhaltlich wie formal auf hohem Niveau und mit ausgezeichnet charakterisierten Figuren besetzt, hält dieser Roman über die gesamte Distanz seine geschickt geschürte Spannung.

Der Hauch des Drachen

Peter Straub, Heyne

Der Hauch des Drachen

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